Visionen von der Stadt der Zukunft
Drei Architekten über die Großstadt in 200 Jahren
Auf die Aufforderung eines Berliner Abendblattes haben sich ein New-Yorker, ein Londoner und ein Wiener Architekt darüber geäußert, wie sie sich die Stadt der Zukunft, also etwa die Stadt des Jahres 2100, vorstellen. Die Äußerungen dieser Fachleute klingen wie Romane aus der Feder Julius Vernes.
Die Turmstadt mit hundert Stockwerken (Architekt Raymond M. Hood, New-York)
Die Stadt der niedrigen Zonen (Architekt Howard Robertson, London)
Die Stadt in der Luft (Architekt Professor Dr. Karl Holey, Wien)
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Quelle
Architekt Raymond M. Hood, New-York
Das steinerne Tor, das die Natur unserem Lande gegeben hat, ist zu eng. Der Name dieses Tors ist New-York. Auf der schmalen Insel Manhattan ringen sieben oder mehr Millionen Menschen nach Raum. Weitere Millionen vom Norden, Süden und Westen zwängen sich durch dies Tor. Sie müssen sich ihren Weg zum Atlantik und zur Außenwelt erzwingen.
Städte, die im Norden, Süden und Westen der Union wachsen, können sich über das weite Land, über die Steppe, über die Prärie ausdehnen. Nach allen Richtungen können sie sich vergrößern.
Aber für New-York gibt es nur eine Möglichkeit der Ausdehnung: nach oben!
Auch andere amerikanische Städte haben ihre städtebaulichen Probleme zu lösen. Mit New-York verglichen, existieren ihre Probleme nur theoretisch.
Fahren Sie in der New-Yorker Untergrundbahn „downtown“ zwischen sieben und neun Uhr morgens oder fahren Sie dieselbe Strecke „uptown“ zwischen sechs und acht Uhr abends!
Oder versuchen Sie im Theaterdistrikt zwischen acht und elf über den Broadway zu fahren!!
Der Versuch artet zum Abenteuer aus. Der Fußgänger ist kein gewöhnlicher Fußgänger mehr. Er ist in Verkehrsordnungen verquickt, fühlt sich in die Hand von wachhabenden Polizisten gegeben, fühlt, daß er nur ein kleines Rad in diesem mechanisierten, ungeheuren Räderwerk ist.
Man stelle in New-York diese praktischen Proben aufs Exempel an und man wird überzeugt sein, daß die goldenen Worte der Statistiken inhaltslos und ohne Bedeutung sind. Wenn sich heute, an jedem Arbeitstag, zwei Millionen Menschen in den Trichterschlund Manhattan quetschen – dann werden es im Jahre 1946 Gott allein weiß wie viele sein.
Kein Plan von den vielen Bebauungsplänen New-Yorks, die jetzt vorliegen, kann so weitsichtig sein, daß er Verkehrsverhältnissen des Jahres 2000 Rechnung trägt. Es geht der Stadtverwaltung wie jenem Manne, der sich bei seiner Verheiratung ein Haus baut und die Möglichkeit einer Familie nicht in Betracht zieht. Spreche ich von der Zukunft New-Yorks – dann kann ich mich nur in Vermutungen ergehen. Vorläufig liegen nur die Anzeichen dafür vor, wie die Probleme eventuell gelöst werden können. Sie werden aber gelöst werden, weil sie gelöst werden müssen.
Vor mir liegt der Entwurf eines hundertstöckigen Hauses.
In der Mitte des Grundrisses liegt eine Batterie von Fahrstühlen, die wie Expreßzüge in die Höhe schießen.
Das Projekt ist noch nicht ausgeführt worden – aber seine Realisation ist kein Zukunftstraum. Der Bau wird kommen – ob ich sein geistiger Vater bin oder irgend jemand anderer. Sicherheit? So sicher wie ihr heutiges Wohnhaus mit zwanzig, vierzig oder mehr Stockwerken. Zu große Beanspruchung des Fundaments? Unsinn! Der moderne Bureauhausbau von zwanzig Stockwerken übt geringeren Druck auf die Steinstruktur Manhattans aus als – gar kein Hochhausbau! Weshalb? … Weil der heutige Neubau weniger wiegt als Erd- und Felsmassen, die zur Fundamentierung eines Gebäudes von morgen ausgehoben werden müssen.
Ich kann mich hier nicht in Einzelheiten auslassen. Ich appelliere an die Phantasie des Lesers. Gebäude der Zukunft werden wie riesenhafte, überlebensgroße Baumstämme aussehen. Wir werden einen Luftverkehr haben, wie wir jetzt einen Straßenverkehr haben. Die „Stadt der Türme“ sieht genügend Landungsplätze vor. Der heutige Typ unserer Wolkenkratzer läßt zu viel kostbaren Raum unausgenützt. Sie rauben uns Licht und Luft. Wir haben den Typ unserer Hochhäuser zu ändern.
Ich propagiere die Turmstadt!
Architekt Howard Robertson, London
Luft und Sonnenlicht, eine Atmosphäre der Fröhlichkeit, des Behagens und die Ersparnis an Zeit und Arbeitskraft werden zu
überragender Bedeutung heranwachsen. Die mechanischen Erfindungen aber helfen uns hierzu nicht so sehr, als sie uns Hemmnisse in den Weg legen. Um Luft- und Sonnenlicht zu erhalten, benötigen wir Raum. Den Raum zu füllen, können wir ohne Verkehr nicht auskommen. Und das Wachsen des Verkehrs verursacht seinerseits Stauungen und Verzögerungen. Auf diese Weise werden unsere Ziele um ihre Verwirklichung gebracht.
Die Idealstadt der Zukunft wird einen vollständig neuen Organisationsplan erforderlich machen.
Die gegenwärtige Methode des Fußgänger- und Fahrverkehrs auf gemeinsam benützten Bürgersteigen und Fahrdämmen wird abgeschafft werden. Da in der Zukunft die unteren Häusergeschosse nicht mehr ihre alte Wichtigkeit besitzen, die Fußgänger nicht mehr auf den Straßen zirkulieren werden, so kehrt sich das Bild nur um. Die öffentlichen Wege werden in die Luft verlegt, auf die Dächer der Gebäude. Man wird Standards für die Gebäudehöhen festlegen,
Dachstraßen
nach bestimmter Norm bauen. Nur im Rahmen solcher Baunormen wird künftig die Baufreiheit gegeben sein. Eine endlose Kette auf- und abwärts sich bewegender Plattformen und Vertikalaufzüge wird die Verbindung der Dachstraßen mit den Unterstraßen herstellen.
Die Ladenfronten wird man nur noch auf den Dächern finden,
ebendort Gärten und andere Anlagen zur Erholung und Ruhe. Der Autoverkehr bleibt allein den Unterstraßen reserviert. Den Raum unterhalb der Gebäude wird man offen lassen und ihn zu Parkplätzen für Fahrzeuge verwenden. Jenseits der breiten Straßenzentren wird man die öffentlichen Gärten, Kioske u. ä. anlegen. Hier wird sich auch der Eingang zu den Fahrstühlen und zur Untergrund-Expreßbahn befinden, die die Passagiere von den Flugplätzen an die Citygrenzen heranbringt.
Die Stadt der Zukunft wird in Zonen eingeteilt sein.
Zwischen jeder Wohn- und Geschäftshauszone liegen Parkwege eingebettet. Lungen für den Atem der City. Die Häuser werden nicht mehr hoch sein, höchstens fünf- oder sechsgeschoßig in festgelegten Abständen aber wird man luftighohe Türme errichten dürfen, die ausschließlich für geschäftliche oder städtische Zwecke bestimmt sind. Einige dieser Turmbauten werden als Kraftstationen dienen, als Elektrizitätszentralen, als drahtlose Posten usw.
Die Wohnbezirke sind nach gleichem Plane unter gewissen Modifikationen zu schaffen. Dort ist ein zusammenhängendes System von Dachgärten am Platze, unter Fortentwicklung des Balkongedankens. Die Wohnungen selbst werden den Typ des Appartements darstellen, wobei dem Kellergeschoß die Aufgabe der Garage und des I.agerspeichers zuzuweisen wäre. Jeder Sektor der City wird seine eigenen Stationen für Lieferung von Wärme, Licht und Kraft besitz. Endlich wird man kommunale Wäschereien einrichten, die von gewählten Distriktsausschüssen geleitet werden.
Innerhalb des Wohnhauses der Zukunft wird die größte Einfachheit regieren. Alle mechanischen Vorrichtungen werden ihm fehlen, da man alles, was an Kraft benötigt wird, durch Drehen eines Schalterknopfes von einer zentralen Quelle beziehen kann. Die Straßen der Zukunftsstadt werden nachts durch Vakuum gesäubert, Staub und Schmutz werden in weitestem Maße verschwinden. Ganz können natürlich Wohnungen und ihre Einrichtungen nicht standardisiert werden, da die menschliche Individualität immer nach persönlichem Ausdruck streben wird.
Das Leben in der Zukunft wird nicht mechanisiert sein. Das Kennzeichen der nächsten Aera ist die Vervollkommnung der Maschine.
Die Maschine aber wird der Menschheit dienen, nicht die Menschheit der Maschine.
Architekt Professor Dr. Karl Holey, Wien
Wohin geht die Entwicklung? Wir müssen neben den die Vergrößerung der Großstadt beschleunigenden Faktoren des Verkehrs und der Bevölkerungszunahme noch ein Moment mit in Betracht ziehen. Der größte Teil der Bevölkerungszunahme strömt in die Städte; er verteilt sich nicht gleichmäßig auf das gesamte Flächenmaß oder auf die Kulturflächen eines Landes. Je weiter die Intensivierung der Wirtschaft vorwärtsschreitet, desto mehr wird die Bevölkerung der Besiedlung des flachen Landes entzogen. Von Jahr zu Jahr verschiebt sich beispielsweise in den Alpen die Siedlungsgrenze nach unten, weil die Wirtschaftlichkeit des Betriebes nicht Schritt halten kann mit den wirtschaftlichen Möglichkeiten im industriellen Siedlungsgebiet und im Bereich der Städte. So kann also das Anwachsen der Großstädte nicht perzentuell nach der Bevölkerungszunahme errechnet werden, sondern es wird in einer vielfach gesteigerten Progression erfolgen. Diese Massenanhäufung von Menschen muß zu Problemen in der Verkehrsentwicklung führen, die mit den uns bekannten Mitteln nicht mehr lösbar sind. Schon heute sind die Zustände in der City von New-York nach den statistischen Untersuchungen von Harold M. Lewis (Highway traffic and The Transit and Transportation Problem, 1925 und 1926) beinahe chaotische. Das Riesenwachstum der Geschäftsstadt, das hier zuerst zu der gigantischen Hochhausentwicklung geführt hat, hat alle Verkehrsvorsorgen überholt. Wenn man bedenkt, daß dieser Verkehr für das Jahr 1965 auf das Sechs- bis Siebenfache, auf einen täglichen Zustrom von neun Millionen Menschen aus öffentlichen Verkehrsmitteln allein geschätzt wird, so ist dies eine Hypertrophie, an der Manhattan zugrunde gehen muß. Es ist aber nicht allein die Großstadt für sich, die ins Unermeßliche wächst, jede Großstadt hat einen Aktionsradius, der sich noch auf Kilometer in die Umgebung bemerkbar macht, eine Erscheinung, die man die Agglomeration der Großstädte nennt. Die Bevölkerung im weiten Umkreise steht in jeder Hinsicht im Bannkreis der Großstadt.
Wir sehen aus dem Beispiel Amerikas, wie die Hochhausentwicklung unter Umständen die Übelstände der großstädtischen Entwicklung nur vermehren kann. Trotzdem hat
auch Europa eine wahre Hochhauspsychose ergriffen, und bekannt sind ja die Pläne Le Corbusiers, der an der Stelle eines großen Gebietes der Pariser Altstadt Wolkenkratzer mit je 60 Geschoßen, jeder mit Arbeitsstätten für 40.000 Angestellte, vorsieht.
Die Frage nach der Gestaltung der Stadt der Zukunft kann niemals mit einer wissenschaftlich begründeten Theorie, immer nur mit einer dichterisch, seherischen Phantasie beantwortet werden.
Also
die Stadt der Zukunft – sagen wir in 200 Jahren – wird in den Wolken thronen.
Jawohl, nicht, mehr auf der Erde, sondern im Reich der Lüfte. Der Verkehr der Zukunft vollzieht sich in der Luft, er, braucht die Erde nicht, also wohnen wir in der Luft. So wie es gelungen ist, die Luft dynamisch zu beherrschen, so wird auch das statische Problem gelöst werden. Die Wohn- und Betriebsstätten der Menschen, die schon heute unten auf dem festen Boden keinen Platz mehr haben und in die Lüfte wachsen, immer höher ragen, sie werden sich
endlich ganz von der Erdenschwere befreien und in beliebiger Höhe und Ausdehnung im Luftraum entwickeln.
Dünne Wände aus heute noch unbekannten Legierungen von Leichtmetall, widerstandsfähig und isolierend, bilden das Baumaterial, die Energie wird in beliebigen Mengen auf beliebige Entfernungen ohne Leiter versendet werden, und es gibt keine rauchenden und lärmenden Industrieanlagen mehr. Die Lage der Siedlungen ist an keinen festen Standort gebunden, die Unterschiede der Völker und Rassen bestehen nicht mehr, alle Menschen leben in einer reinen Atmosphäre des Glückes. Uralte Menschheitsträume werden wahr. Ist es nicht mit manchen Träumen, mit manchem uralten Sehnen der Menschheit so gewesen? Träume sind Propheten.