Eine Methode des Überschreibens, die bereits in der Antike und im Mittelalter angewendet wurde, ist die Palimpsestierung. Dabei wird Pergament abgewaschen oder abgeschabt und eine weitere Schicht kann dann als frische Schrift über der verblichenen Schrift aufgetragen werden. Hatte diese Technik im Mittelalter vor allem ökonomische Gründe, führte sie doch dazu, dass Palimpseste später nur mehr lückenhaft und mühsam rekonstruiert werden konnten und Palimpsestierung im 19. Jahrhundert auch als Metapher für geistige und kreative Prozesse verwendet wurde.
Palimpseste werden nicht zuletzt aufgrund dieser Leerstellen häufig mit der Thematik von Erinnerung und Gedächtnis in Verbindung gebracht, so etwa auch bei Thomas De Quincey, der besonders das menschliche Gedächtnis mit einem Palimpsest vergleicht und fragt:
„What else than a natural and mighty palimpsest is the human brain? Such a palimpsest is my brain; such a palimpsest, O reader! is yours. Everlasting layers of ideas, images, feelings, have fallen upon your brain softly as light. Each succession has seemed to bury all that went before. And yet in reality not one has been extinguished.“ 1(De Quincey, 150)
Die Rolle von Schrift und Körper im Zusammenhang mit Gedächtnis wird von Jan und Aleida Assmann als Form eines kulturellen Gedächtnisses beschrieben, das weit über das individuelle oder kollektive Gedächtnis in Form eines Bindungsgedächtnisses hinausgeht und das „eine freie Verfügung des Einzelnen über die Erinnerungsbestände“ ermöglicht und die Chance bietet, „sich in der Weite der Erinnerungsräume eigenständig zu orientieren“. 2(Assmann, 207)
Die Verschriftlichung führt zu einer Lern- und Erinnerungsgemeinschaft: „Was die Schrift ermöglicht, ist die Verstetigung der Erinnerung, die Befreiung von den Rhythmen des Vergessens und Erinnerns“. (Assmann, 205) Durch Schrift wird das Gedächtnis von einer Bindung an ein Kollektiv befreit und für eine individuelle Bildung geöffnet, die über eine Tradition hinausgeht: Kultur selbst wird zu einem Palimpsest, wo ein „unentwirrbares Ineinander von altem und Neuem“ entsteht, das letztlich zu einem Nährboden für Erneuerungen und Veränderungen wird. (vgl. Assmann, 208)
Diese Art des kulturellen Gedächtnisses sieht die Wandelbarkeit von Schrift und Körper und verweist auf eine Dynamik der Brüche, Verschüttungen und Diskontinuitäten:
Überschreibungen tragen subversive, abgespaltene, nicht-instrumentalisierbare und häretische Anteile in sich und sind komplex, pluralistisch und labyrinthisch. In künstlerischen Arbeiten werden diese Brüche sichtbar gemacht und neue Relationen und Perspektiven hergestellt.
Nach Walter Benjamin3 kann die Vergangenheit nicht dauerhaft konserviert werden, denn ihr Bild wird immer flüchtig bleiben, ihre Stimme ein Echo von bereits verstummten sein; der Engel der Geschichte wird auf die Trümmer starren und vom Sturm des Fortschritts in die Zukunft fortgetragen werden, „während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.“ (Benjamin, 255)
Nicht als Trümmerhaufen und einzelne Fragmente, aber als eine dezentrierte und zerstreute Welt von Trugbildern formuliert Gilles Deleuze seine Idee einer Kommunikation der Ereignisse4: Serien werden erst durch eine interne und immanente Distanz in Resonanz versetzt und die positive Bejahung der Differenz führt zu Kompossibilität.
Bisher Unverbundenes wird miteinander verknüpft und an den Bruchstellen entsteht Veränderung und Durchdringung. Mit dem Begriff des Rhizoms beschreiben Deleuze und Félix Guattari solche Netzwerke, die auch aus der Medientheorie als Hypertext-Netzwerke bekannt sind.
Als Strategien der Überschreibung können auch Techniken der Verfremdung, der Veruneindeutigung, der Parodie oder der Verzerrung gelten, wie sie beispielsweise auch im Bereich von Gender Performances zu Tage treten. In der absichtlichen Verfehlung kodierter Handlungsanweisungen werden die Vorstellungen von Originalität und Wesenhaftigkeit von Geschlecht, ja, von Identität generell in Frage gestellt. Die der Überschreibung scheinbar zugrundeliegende Ursprünglichkeit entbirgt sich in ihrer Nachträglichkeit, d.h. es wird aufgezeigt, dass scheinbare Originale durch Prozesse der Naturalisierung nachträglich als solche konstruiert werden. In diesem Sinne entlarvt Judith Butler jegliche Form von Geschlechtsidentität als drag.
In den Medien Film, Video und Fotografie werden mittels Überblendungen und Doppelbelichtungen ebenfalls Effekte der Überschreibung erzielt, die Irritation, Uneindeutigkeiten und zugleich zeitliche Überlagerungen erzeugen. So werden mit Überblendungen häufig Szenenübergänge, Rückblenden, Zeitsprünge und subjektive Bilder, wie zum Beispiel Traumsequenzen, eingeleitet. Sie stehen daher für die Auflösung einer linearen Zeitstruktur bzw. für die Aufhebung der Trennung von Realität und Irrealität.
Mit dem psychoanalytischen Begriff der Nachträglichkeit hat Sigmund Freud eine dynamische, die Struktur subjektiver Zeitlichkeit berücksichtigende Erinnerungs- und Gedächtnistheorie entwickelt, die auf die aktualisierende Reinterpretation der persönlichen Vergangenheit fokussiert. Nachträglichkeit bedeute demnach, dass Erfahrungen und Erinnerungen aus der Kindheit später umgearbeitet würden und so einen neuen Sinn und eine neue Wirksamkeit erhielten. Auch diese Form der Überschreibung bricht mit der Linearität von Zeit und verdeutlicht das konstitutive Ineinandergreifen von Erinnerung und Fiktion.
Überschreiben als Jahresthema des Instituts für Wissenschaft und Forschung an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien bietet Raum für eine künstlerische und wissenschaftliche Beschäftigung mit Phänomenen der Palimpsestierung, dem kulturellen Gedächtnis, der Verschriftlichung und Dechiffrierung von Kunst, der Kommunikation von Schriften und Körpern, dem labyrinthischen Netzwerk von Altem und Neuem sowie mit Techniken der Verfremdung, der Verzerrung oder der Überblendung.
(Text: Julia Purgina, Rosemarie Brucher)
1Thomas De Quincey: Suspiria de Profundis. In: Thomas De Quincey: Confessions of an English Opium-Eater and Other Writings. Edited with an Introduction and Notes by Barry Milligan. Penguin, London 2003, S. 89–190
2Jan Assmann: Schrift und Körper als Gedächtnisspeicher. Vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. In: Moritz Czáky, Peter Stachel (Hg.): Speicher des Gedächtnisses. Teil 1: Absage an und Wiederherstellung von Vergangenheit, Kompensation von Geschichtsverlust, Wien 2000, S. 199-213
3Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt 2018 (18. Auflage), S. 251-261
4Gilles Deleuze: 24. Serie der Paradoxa. Von der Kommunikation der Ereignisse. In: Logik des Sinns, Frankfurt 1993, S. 211-220