ELEMU and the art of interaction

Eine Studie von MUK-Studierenden zum Einfluss musikpädagogischer Angebote auf den Klassenzusammenhalt

Die Studierenden des Studiengangs Instrumental- und Gesangspädagogik an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien sollen in ihrem Studium nicht nur künstlerische und didaktische Fähigkeiten erlernen, sondern auch mit den Methoden und Befunden wissenschaftlichen Arbeitens vertraut gemacht werden. Ausgehend von der Annahme, dass man auch theoretische Fähigkeiten am besten in der Praxis verinnerlicht, haben Studierende des Studiengangs IGP unter der Leitung von Prof. Dr. Wiebke Rademacher im Sommersemester 2023 im Rahmen der Lehrveranstaltung IGP-relevante Forschung eine kleine Studie in einer Volksschule konzipiert, durchgeführt und ausgewertet.


Was ist ELEMU?

Musikpädagogische Projekte sind ein wichtiger Bestandteil der heutigen Bildungslandschaft, insbesondere in der Volksschule. Diese kreativitätsfördernden Programme bieten nicht nur eine Gelegenheit für Kinder, ihre musikalischen Talente zu entfalten, sondern dienen auch als Katalysator für soziale Integration und den Aufbau von Gemeinschaft. Ein in diesem Zusammenhang besonders zentrales Projekt in Wien ist „Elementares Musizieren“ oder kurz „ELEMU“ eine Kooperation zwischen den Musikschulen Wien und der Bildungsdirektion. ELEMU richtet sich an Volksschulklassen und erweitert den Musikunterricht, der im Lehrplan bereits vorgesehen ist, um eine zusätzliche musikalische Stunde. Diese Stunde, geleitet von Musiklehrer*innen der Musikschulen Wien, fördert aktiv das gemeinsame Musizieren und Tanzen, vermittelt musikalische Grundkenntnisse und eröffnet den Kindern einen persönlichen Zugang zur Musik.

Was ELEMU aus Sicht der Projektorganisator*innen jedoch besonders auszeichnet, ist seine inklusive Natur, die allen Kindern, unabhängig von Herkunft, Familie oder bisherigem Werdegang, die Möglichkeit bietet, von Anfang an in die Welt der Musik einzutauchen.1 Dabei strebt das Programm an, möglichst viele Schüler*innen zu erreichen und sich stetig zu erweitern, wie Swea Hieltscher, die Leiterin der Musikschule der Stadt Wien, in einem Interview schilderte: „Im Schuljahr 2015/16 wurden 2.225 Kinder (37 Standorte, 89 Klassen – inklusive der vom Stadtschulrat organisierten 13 ELEMU-Schulen mit insgesamt gleichbleibenden 16 Klassen) erreicht, bei Vollausbau im Schuljahr 2016/17 werden es bei gleichbleibender Anzahl von Standorten rund 2.650 ELEMU-Kinder sein. Der Campus Attemsgasse wird ab dem Schuljahr 2017/18 neu bespielt, es sind vier ELEMU-Klassen eingeplant.“2 Stand 2023 werden mehr als 20 Volksschulstandorte im Rahmen von ELEMU betreut.3

Während ELEMU in seiner Form und seinem Umfang ein einzigartiges musikpädagogisches Angebot der Stadt Wien darstellt, ist es dennoch Teil eines breiteren Trends zur Förderung von musikalischer Bildung und sozialer Integration in der Volksschulbildung. Vergleichbare Programme, wie beispielsweise „JeKits“ (Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen),4 haben sich auch in Deutschland etabliert und verfolgen ähnliche Ziele. Diese Projekte verdeutlichen die wachsende Anerkennung des Potenzials musikalischer Bildung und die Notwendigkeit von Bildungsangeboten jenseits des regulären Lehrplans. Im Gegensatz zu ELEMU wurde „JeKits“ bereits umfangreich empirisch beforscht, beispielsweise in der 2019 von Dr. Thomas Busch und Prof. Dr. Andreas Lehmann-Wermser veröffentlichten „Evaluierung des Programms Jedem Kind Instrumente, Tanzen Singen“.5


Forschungsfrage und Aufbau der Studie

ELEMU verfolgt parallel unterschiedliche pädagogische Ziele, die über den rein musikalisch-instrumentalen Kompetenzerwerb hinausgehen: „Nicht nur das musikalische Erleben, sondern auch die persönliche Entwicklung der Kinder und ihrer Klassengemeinschaft wird gefördert.“6 Im Gespräch mit Studierenden der MUK hob die Musikerin und Musikpädagogin Theresia Schmidinger, Fachgruppensprecherin ELEMU der Musikschulen Wien, den ganzheitlichen Ansatz des Programms hervor.7 Doch inwiefern unterscheidet sich der soziale Zusammenhalt und die Achtsamkeit im Klassengefüge zwischen ELEMU-Klassen und regulären Klassen? Lassen sich durch die betreuenden Pädagog*innen bezogen auf das Sozialgefüge im Unterrichtsalltag Unterschiede zwischen Lerngruppen beobachten, die ELEMU-Unterricht erhalten und solchen, die es nicht bekommen?

Um sich Antworten auf diese Fragen anzunähern, haben die 16 Studierenden des Seminars IGP-relevante Forschung der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien ein mehrgliedriges, kleines Forschungsprojekt konzipiert und realisiert. Aufgrund der sehr begrenzten zeitlichen und personellen Möglichkeiten im Rahmen eines Seminars fiel die Entscheidung, eine Stichprobenstudie durchzuführen. Als Proband*innen wurden eine ELEMU-Klasse und eine reguläre Klasse des 2. Jahrgangs der Volksschule Grubergasse in Wien.8 Diese Versuchsgruppen wurden auf drei Ebenen untersucht:

1: In einem ersten Schritt wurden Interviews mit den betreuenden Pädagog*innen durchgeführt: Mit dem Klassenvorstand der ELEMU-Klasse, dem Klassenvorstand der Parallelklasse, einer ELEMU-Lehrkraft und einer Nachmittagsbetreuerin, die beide Klassen kennt. Die Pädagog*innen beobachten die Klassen über einen längeren Zeitraum, können auf Erfahrungswerte zurückgreifen und die Klassendynamiken besser einschätzen. Im Gespräch mit ihnen ist eine Meta-Reflexion über die Ziele und Wirkweisen musikpädagogischer Projektangebote möglich. Diese Interviews wurden persönlich geführt, transkribiert und ausgewertet.

2: Darüber hinaus wurde eine Experimental-Studie mit den Klassen konzipiert und durchgeführt. Die 50-minütige, spielerische Unterrichtseinheit wurde durch zwei Student*innen in möglichst identischer Form in beiden Klassen durchgeführt. Mittels verschiedener Übungen sollte hierbei das Sozialverhalten und das Klassengefüge zwischen den Schüler*innen untersucht werden. Gibt es Unterschiede in der Teamfähigkeit? Wie gehen die Schüler*innen miteinander um? Wie geduldig und unterstützend sind sie mit ihren Mitschüler*innen? Die Spiele reichten dabei von Teamaufgaben für die ganze Gruppe, über Kreativitätsübungen in Zweiergruppen bis hin zu Bewegungsspielen. Eine Studierendengruppe hatte dabei die Aufgabe, diese Vorgänge zu beobachten sowie zur Analyse im Nachhinein auf Video zu dokumentieren.

3: Parallel wurden die beiden Klassen durch eine Gruppe von Studierenden im regulären Unterricht beobachtet. Die Studierenden hatten dabei bewusst nicht an der Experimentalstudie teilgenommen, um den Gruppen möglichst unvoreingenommen zu begegnen.


Ergebnisse

Die Auswertung der kleinen Erhebungen deuten sowohl auf Parallelen zwischen den beiden Klassen als auch auf Unterschiede hin. Beide Klassen reagierten grundsätzlich offen und positiv auf die Experimentalstudie und zeigten einen wertschätzenden Umgang miteinander. Beide Lerngruppen zeigten sich den Spielen gegenüber offen und reagierten bereits beim Aufwärmspiel aktiv und kooperativ auf die ihnen unbekannten Workshopleiter*innen. Die Kinder beider Klassen reagierten verständnisvoll und geduldig, wenn Mitschüler*innen Spielregeln nicht sofort verstanden oder nicht schnell reagierten und unterstützen sich gegenseitig. Dies war beispielsweise bei einem Menschenmemory der Fall, bei dem ein*e Schüler*in jeweils Memory-Paare unter den Mitschüler*innen finden muss. Obwohl der suchende Schüler hier Schwierigkeiten zeigte und somit den Spielfluss der Gruppe aufhielt, reagierte die Klasse verständnisvoll und bot dem Schüler Hilfen an. Die ELEMU-Klasse stach hier besonders hervor.

Diese Kompetenz werde in Angeboten wie ELEMU geschult, vermutet die Klassenvorständin der ELEMU-Klasse: „[Das positive Klassengefüge] kann schon mit ELEMU zusammenhängen, weil wir durch ELEMU zweimal in der Woche […] viel spielen können. Einfach einmal nicht dieses starre Sitzen und irgendetwas lernen Müssen – das ist einfach sehr wenig im normalen Regelunterricht, weil wir einen extremen Druck haben.“9 Den Eindruck, dass projektbezogene Unterrichte in besonderer Weise das Klassengefüge positiv beeinflussen können, vertritt auch die Klassenvorständin der Parallelklasse, die in Projekten eine veränderte Sozialdynamik und Motivation der Schüler*innen beobachtete.10 Auch der langjährige ELEMU-Lehrer ist überzeugt: „ELEMU bzw. projektbezogener Unterricht trägt zur persönlichen Entwicklung bei.“11

Neben den Parallelen zeigten sich jedoch auch Unterschiede, die zum Teil über die ursprünglich formulierte Forschungsfrage hinausgingen. So zeigte sich die ELEMU-Klasse kreativer bei der Entwicklung von eigenen Klängen/Bewegungen, wie sie beispielsweise beim oben genannten Menschenmemory gefordert war. Sie kombinierten in Zweierteam Klänge und Bewegungen und versuchten eigenständige, besondere Klangpaare zu kreieren. In der Vergleichsklasse glichen sich die Klangpaare dagegen eher und gingen selten über reine Geräusche hinaus. Darüber hinaus zeigte die ELEMU-Klassen weniger Hemmungen bei geschlechtergemischter Zusammenarbeit. Im sogenannten Gordischer Knoten bekamen die Klassen die Aufgabe, mit geschlossenen Augen quer durcheinander die Hände von Mitschüler*innen zu ergreifen und den Knoten eigenständig zu entwirren. Diese Übung lief in der ELEMU-Klasse ruhiger ab, in der Vergleichsgruppe gab es große Hemmungen, Jungen/Mädchen zu berühren, die auch geäußert wurden. Auch gab es in der Vergleichsklasse beim Menschenmemory ein geschlechtergemischtes Pärchen weniger.

Im Gespräch mit der Klassenvorständin fiel noch ein weiterer Punkt auf: In der ELEMU-Klasse gab es seit September sechs neue Schülerinnen bzw. Schüler. Dies war durch die Hospitant*innen der Experimentalstudie nicht zu erkennen. ELEMU-Lehrer Rafael Neira Wolf wies in diesem Zusammenhang auf die positive Wirkung von ELEMU hin: „Ausreißerkinder können mit kreativen Methoden eingefangen werden, wenn man Ihnen die Relevanz für die ganze Gruppe bewusst macht.“12

In der Hospitation im Regelunterricht zeigte sich noch ein weiterer spannender Aspekt: In der Vergleichsklasse begannen die Schüler*innen in der Pause gemeinsam zu singen. Obwohl sie quantitativ weniger musikalische Unterrichtsangebote erhielten als die ELEMU-Klasse, ist Musik offensichtlich wichtiger und natürlicher Bestandteil des Schulalltags auch in nicht-strukturierten Zeiten wie den Pausen.

In allen Studienschritten wurde dabei deutlich, wie zentral die Rolle der Lehrkräfte ist: „Die Lehrkraft hat einen größeren Einfluss auf das Klassengefüge. Das Wie ist entscheidend und nicht das Was. Am Ende geht es nicht um die Inhalte, sondern um die Werte, die man den Kindern vermittelt.“13 Sie haben durch ihre Präsenz und Ansprache einen besonders zentralen Einfluss auf das Klassengefüge und die Gruppendynamik. Bei den Spielen hat eine der Klassenvorstände recht stark interveniert und eine aktive Rolle eingenommen, während die andere Lehrerin eher eine beobachtende Rolle eingenommen hat. Ihre unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen – so die Hypothese der Studierenden – spiegelt sich im Verhalten der Klasse und in der Unterrichtsathmosphäre. Diesen Eindruck hatten auch die Lehrerinnen selbst: Als eine Lehrerin länger erkrankt war, veränderte sich der Klassenzusammenhalt ihrem Eindruck nach stark. So waren die im Regelunterricht etablierten Klassenregeln und Umgangsformen auch in der Experimentalstudie präsent und spürbar.


Grenzen der Studie

Obwohl diese Studie wertvolle Einblicke in den Einfluss musikpädagogischer Angebote auf den sozialen Zusammenhalt und die Achtsamkeit in Klassengemeinschaften bietet, sind deutliche Grenzen zu beachten. Die Stichprobe, bestehend aus einer ELEMU-Klasse und einer regulären Klasse, ist zweifellos klein, und es ist wichtig zu betonen, dass Schülerinnen und Schüler in jeder Gruppe ihre einzigartigen Persönlichkeiten und Hintergründe haben. Um die Beobachtungen in einen breiteren Kontext zu setzen und verallgemeinerbare Schlussfolgerungen zu ziehen, wäre eine umfangreichere Untersuchung notwendig. Dies würde eine größere Anzahl von Klassen, einen längeren Beobachtungszeitraum und die Einbeziehung von Kontrollgruppen erfordern, die keinen musikpädagogischen Unterricht erhalten.

Zusätzlich könnte die Durchführung einer Blindstudie in Betracht gezogen werden, bei der die Forschenden nicht wissen, welche Klasse die ELEMU-Klasse ist, um jegliche unbewusste Beeinflussung der Beobachtungen zu verhindern. Eine solche Methode könnte eine objektivere Datenerhebung ermöglichen. Des Weiteren könnten unauffälligere Beobachtungsmethoden gewählt werden, um das natürliche Verhalten der Schülerinnen und Schüler im Klassenzimmer nicht zu stören.

Schließlich ist es wichtig anzumerken, dass die Rolle der Klassenlehrerinnen und -lehrer einen erheblichen Einfluss auf das Klassengefüge hat. In dieser Studie wurde versucht, ihre Interventionen zu minimieren, um das natürliche Verhalten der Schülerinnen und Schüler zu beobachten. Eine klarere Kommunikation im Vorfeld mit den Lehrkräften darüber, nicht in den Ablauf einzugreifen, könnte in zukünftigen Forschungsarbeiten von Vorteil sein. Trotz dieser Herausforderungen bietet diese Studie wertvolle Erkenntnisse über die Potenziale musikpädagogischer Projekte in der Volksschulbildung und eröffnet Möglichkeiten für weitere vertiefende Untersuchungen.

 

Seminarleitung: Prof. Dr. Wiebke Rademacher

Team Interview: Raffael Auer, Matti Moritz Felber, Antonia Maria Kapelari, Georg Johann Palmanshofer

Team Auswertung: Fabian Wagesreiter, Firangiz Abdullayeva

Team Hospitation: Urs Martin Hager, Petra Kinga Szovak, Sarah Machac

Team Experimentalstudie: Katharina Wegscheider, Julia Gertraud Schneckenleitner

Team Beobachtung vor Ort und Auswertung: Tamilla Kurmangaliyeva, Piotr Igor Motyka, Ion Scripcaru

Team Bericht: Maximilian List, Daniele Francesco Giaramita

 

Herzlichen Dank an Swea Hieltscher, Theresia Schmiedinger und Rafael Neira Wolf von den Musikschulen Wien sowie an die Schüler*innen und Pädagoginnen der Volksschule Grubergasse für die Mitwirkung

 

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https://www.wien.gv.at/bildung/schulen/musikschule/unterrichtsfaecher/elemu.html [letzter Zugriff: 04.09.2023]
https://www.musicaustria.at/musikvermittlung/auf-die-zwei-stunden-elemu-freuen-wir-uns-schon-die-ganze-woche/ [letzter Zugriff: 04.09.2023]
3 https://www.wien.gv.at/bildung/schulen/musikschule/unterrichtsfaecher/elemu.html [letzter Zugriff: 04.09.2023]
4 https://www.jekits.de/ [letzter Zugriff: 04.09.2023]
5 https://miz.org/de/dokumente/evaluation-des-programms-jedem-kind-instrumente-tanzen-singen-jekits, [letzter Zugriff: 04.09.2023]
6 ELEmentares MUsizieren - kurz „ELEMU“ - in der Volksschule, Flyer der Musikschulen Wien (Stand: 19. Dezember 2022)
7 Interview der gesamten Forschungsgruppe mit der Fachgruppensprecherin Theresia Schmidinger am 23.02.2023.
8 https://ovsgrubergasse.schule.wien.at/ [letzter Zugriff: 04.09.2023]
9 Interview von Antonia Kapelari mit Klassenvorständin am 11.05.23.
10 Interview von Matti Felber mit Klassenvorständin am 04.05.23.
11 Interview von Raffael Auer mit Rafael Neira am 14.05.23.
12 Interview von Raffael Auer mit Rafael Neira am 14.05.23.
13 Interview von Matti Felber mit Klassenvorständin und Georg Johann Palmanshofer mit Nachmittagsbetreuerin am 04.05.23.