03, Dezember 2025 14:30-16:30
MUK.Podium, Johannesgasse 4a
Der Vortrag widmet sich dem komplexen Spannungsverhältnis von musikalischem Text,
interpretatorischer Entscheidung und künstlerischer Intention anhand der Partitureintragungen
Nikolaus Harnoncourts. Als zentrale Figur der historisch informierten Aufführungspraxis verband
Harnoncourt philologische Genauigkeit mit einer zuweilen hochgradig subjektiven, expressiven
Auslegung des Notentextes. Anhand seiner akribischen Eintragungen in der Dirigierpartitur, die
den assoziativen Horizont seiner Denk- und Arbeitsweise belegen, werden typische Annotationen
wie Artikulationshinweise, Tempovorstellungen, Phrasierungsbögen und Ausdrucksmarkierungen
analysiert. Diese Eintragungen eröffnen nicht nur Einblicke in Harnoncourts interpretatorisches
Denken, sondern zeigen, wie er den Text als Ausgangspunkt, aber nicht als bindendes Regelwerk
verstand. Harnoncourts Partituren bieten ein faszinierendes und vorbildhaftes Fallbeispiel für das
Spannungsfeld zwischen Überlieferung und Neuschöpfung in der Musikinterpretation. Der Vortrag
fragt, inwiefern seine Praxis zwischen historischer Treue und schöpferischer Freiheit oszilliert und
welche Rolle Intention dabei spielt: Ist sie rekonstruierbar oder vielmehr ein kreativer Akt des
Interpreten?
Als Zeitzeuge der Einstudierung und der damit verbundenen CD-Aufnahme der 8. Symphonie von Ludwig van Beethoven durch Nikolaus Harnoncourt im Sommer 1990 im Grazer Stefaniensaal wirft Harald Haslmayr einen Blick auf dessen allgemeine dirigentische Arbeitsweise und seine spezifische Sicht gerade auf dieses so rätselhaft "sperrige" Werk. Besonders interessant verspricht die nunmehr neue hermeneutische Ausgangssituation zu werden, da durch die Digitalisierung der Dirigierpartitur Harnoncourts nach dessen Tod 2016 nun auch seine Notizen und Anmerkungen öffentlich zugänglich geworden sind - im Jahr 1990 noch vollkommen unvorstellbar, damals wurden sie noch streng gehütet.
Über den konkreten "Fall" 8. Symphonie hinaus ergibt sich die Gelegenheit, über ontologische Voraussetzungen der abendländischen Musiknotation nachzudenken: Ist der "Notentext" nun eine konkrete Ausführungsanweisung oder ein persönlicher Liebesbrief aus der Vergangenheit? Nikolaus Harnoncourts Einstellung zu diesem Thema war jedenfalls sehr vielschichtig, ja oft auch widersprüchlich, daher aber äußerst aufschlussreich.
Vortragender: Univ.Prof. Mag.Dr.Harald Haslmayr (KUG)
Der 1965 in Graz geborene Harald Haslmayr ist einer der vielseitigsten Köpfe der heimischen
Geistes- und Kulturwissenschaft. Nach seinem Studium der Geschichte und Deutschen Philologie
sowie seiner Dissertation über Robert Musil nimmt er als Lehrbeauftragter und Assistent
(1991-2001), Assistenzprofessor (2001–2004) und schließlich als außerordentlicher Professor (seit
2004) verschiedene Funktionen am Institut für Wertungsforschung der Kunstuniversität Graz bzw.
dem daraus hervorgegangenen Institut für Musikästhetik wahr. Daneben war Haslmayr von 1996–
2002 Lehrbeauftragter am Institut für Österreichische Geschichte der Karl-Franzens-Universität
Graz sowie Lehrbeauftragter an der Universität Klagenfurt. Neben seiner langjährigen Tätigkeit als
Musikkritiker der Tageszeitung „Die Presse” (1999–2016) ist Haslmayr auch als international
gefragter Vortragender, Präsident der Gesellschaft der Domchorfreunde Graz (seit 2016) sowie als
Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen bekannt, der mit seinen Konzerteinführungen
und Moderationen aktiv zum heimischen Kulturleben beiträgt.
https://musikaesthetik.kug.ac.at/personen/mitarbeitende/harald-haslmayr
Im Anschluss findet am nächsten Tag, dem 4.12, im MuTh das Konzert des MUK.Sinfonieorchesters (Tratto) statt. Ein musikalisches Highlight, bei dem die Symphonie noch einmal in voller Pracht erklingt.
https://muk.ac.at/veranstaltung/tratto-2025-02.html