Andreas Mailath-Pokorny erklärt, warum er sein Engagement für die Aufarbeitung der NS-Geschichte und die bewusste Erinnerungskultur auch an der Wiener Musik- und Kunstuniversität fortsetzt.
Wina. Das jüdische Stadtmagazin, Februar 2022
Wina: Sie waren 17 Jahre SPÖ-Kulturstadtrat und sind seit September 2018 Rektor der Musik- und Kunst-Privatuniversität der Stadt Wien (MUK). Wie geht es dem Rektor einer Musik- und Kunstuniversität in Zeiten der Covid- Pandemie?
Andreas Mailath-Pokorny: Wir haben den Betrieb aufrechterhalten, hatten aber auch keine andere Wahl: Onlineunterricht in Kammermusik, bei Blasinstrumenten oder bei Chören kann man eine Zeitlang machen, aber nicht auf Dauer. Wir konnten den Präsenzunterricht anbieten, weil wir sehr früh eine Covid-Taskgroup auf Uni-Ebene eingerichtet und das Regelwerk laufend für unsere Bedürfnisse adaptiert haben. Es gab viele Sonderregeln, die Spucke der Bläser musste zum Beispiel als Sonderabfall entsorgt werden. Aber wichtig ist, dass niemand ein Semester verloren hat. […]
Wina: Wie viele Studierende gibt es an der MUK, und woher kommen sie?
AMP: Wir haben 850 Studierende. Diese kommen zu je einem Drittel aus Österreich, aus der EU und dem Rest der Welt, großteils aus Asien. Das Erfreuliche ist, dass wir kaum jemand während der Covid-Krise verloren haben. Es gibt pro Jahr etwa 1.500 Bewerbungen, leider können wir jährlich nur 200 Neuaufnahmen machen.
Wina: Sie firmieren als Privatuniversität, wieso?
AMP: Anders, als es unser Name suggeriert, sind wir eine öffentliche Universität der Stadt Wien. Da laut Verfassung nur der Bund für Universitäten zuständig sein darf, mussten wir, wie auch andere Landeskonservatorien, einen strengen Akkreditierungsprozess für den Universitätsstatus durchlaufen. Wir sind daher formal privat, aber nicht materiell: 95 Prozent finanziert die Stadt Wien, es gibt keine Studiengebühren, mit Ausnahme Angehöriger weniger Drittstaaten.
Wina: Das ist sehr großzügig?
AMP: Das ist richtig. Bis auf 300 Euro Anmeldegebühr ist das Studium kostenlos. Bei meinen Einführungsveranstaltungen sage ich immer dazu, dass ein Studienplatz jährlich 23.000 Euro kostet, die Differenz wird vom Steuerzahler, der Steuerzahlerin geleistet. Also eine gewisse Demut, Dankbarkeit ist schon angebracht.
Wina: Sie haben an der MUK das fortlaufende Forschungsprojekt Hausgeschichte – Zeitgeschichte initiiert und betreiben es mit viel Engagement. Das Projekt fokussiert auf drei Schwerpunkte: 1. die Auseinandersetzung mit den ab 1938 verfolgten und vertriebenen Lehrkräften und deren Studenten und Studentinnen sowie die Erforschung der politischen Nähe von Mitgliedern des Lehrkörpers zum Nationalsozialismus; 2. die Frage nach Raub und Restitution von Musikinstrumenten, Büchern und Noten sowie 3. die Folgen der NS-Politik nach 1945 in Wien für die Musikausbildung. Was können Sie uns dazu erzählen?
AMP: Auch als Kulturstadtrat habe ich mich um einen bewussten Umgang mit der Vergangenheit, mit der Erinnerungskultur bemüht. Bei meinem ersten Rundgang in der Universität suchte ich nach einer Tafel zur Erinnerung an die Vertriebenen und Opfer des Nationalsozialismus. Lediglich eine kleine Tafel an der Außenmauer der Johannesgasse 4A, ehemals Standort der Radio Verkehrs AG (RAVAG), erinnert an die blutige Erstürmung des Gebäudes im Verlauf des NS-Putsches vom 25. Juli 1934. Das war alles. Meine Nachfragen und Recherchen ergaben dann, dass die Musikschule der Stadt Wien 1938 eine Gründung der Nazis war und daher keine Juden und Jüdinnen mehr zugelassen waren. […]
Wina: Sie haben das 75-Jahr-Jubiläum 2020 zum Anlass genommen, die bisherige Forschungsarbeit, an der auch Experten und Expertinnen der MUK, des Kunsthistorischen und des Wien Museums beteiligt gewesen sind, zu dokumentieren.
AMP: Wir wollten das Buch Die Musikschule der Stadt Wien im Nationalsozialismus – Eine „ideologische Lehr- und Lerngemeinschaft“ (Hollitzer Verlag) bereits 2020 präsentieren, aber die Pandemie verhinderte auch das. […]
Wina: Das Online-Gedenkbuch zur Erinnerung an Lehrende und Studierende, die unter dem NS-Regime verfolgt wurden, wird in Kürze freigeschaltet?
AMP: Da wollen wir alle Namen auflisten, in der Hoffnung auf neue Eingaben und zahlreiche Ergänzungen. Bei der Forschung und Restitution sind wir ja zumeist auch auf Zufälligkeiten angewiesen, wir nutzen damit die Grundidee des World Wide Web in der Hoffnung, dass Menschen in aller Welt noch fehlende Puzzles eingeben. Das funktioniert nach dem Wikipedia-Prinzip. Seit 2011 sind Sie auch Präsident des Bunds Sozialistischer AkademikerInnen (BSA). Als SPÖ-Finanzstadtrat Sepp Rieder und Innenminister Caspar Einem im Jahr 2002 die Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten nach 1945 schonungslos aufarbeiten wollten, hatten sie noch mit starkem Widerstand in der SPÖ und im BSA zu kämpfen.
Wina: Sie machen das jetzt mit dem MUK, wie wird das insgesamt aufgenommen?
AMP: Bei diesem Thema hat sich wahnsinnig viel verändert. Die Erinnerungskultur ist mittlerweile lückenlos positiv besetzt.
Wina: Verstehen das die Studierenden aus aller Welt auch?
AMP: Von je weiter entfernt sie kommen, umso weniger ist es ein Thema. Ich habe auch eine kleine Vorlesung, bei der ich versuche, politische Kulturgeschichte zu thematisieren: Auch wenn Studierende nur vier Jahre in Österreich sind, müssen sie sich mit der Kultur des Landes auseinandersetzen, nicht nur mit dem Instrument oder dem Fach, das sie erlernen. Ich sehe das auch als einen wichtigen Bestandteil einer Integrationsarbeit, dass man jungen Menschen vermittelt: Wenn ihr hier Teil des Kulturlebens sein wollt, dann müsst ihr auch unsere Geschichte kennen, denn dieses dunkle Kapitel ist ein Teil unserer Identitäten.
Wina: Sie haben als Wiener Stadtrat von 2001 bis 2018 die Erinnerungskultur in der Stadt vorangetrieben. Nur einige Beispiele: die Einführung eines Festes der Freude am 8. Mai, die Restitution von über 30.000 Kunstobjekten. Zahlreiche Denk- und Mahnmale gehen auf Ihre Initiative zurück, z. B. das Deserteursdenkmal, Spiegelgrund, Aspangbahnhof. Zusatztafeln bei Straßenschildern, die Umbenennung des Lueger-Rings und die Sanierung jüdischer Friedhöfe. Immer wieder heißt es, die Erinnerungs- und Gedenkkultur ist erstarrt, nur wenige Zeitzeugen der Schoah leben noch. Bedeutet das den Schlussstrich unter dieses Thema? Auch für Sie?
AMP: Das Fest der Freude ist mir heute fast das wichtigste Symbol, denn es bedeutet nicht nur, gegen einen faschistischen Trauermarsch zu demonstrieren, sondern etwas Aktives dagegen zu tun: den Heldenplatz positiv zu besetzen und die Freude über die Befreiung 1945 öffentlich zu manifestieren. Insbesondere angesichts der aktuellen Tatsache, dass man von Menschen vereinnahmt wird, die behaupten, sie seien die Mehrheit, aber für die Stadt nichts Gutes wollen. Apropos Schlussstrich: Das Gedenken darf nicht in einem Ritus erstarren, deshalb müssen wir zu Menschen gelangen, die mit dem Thema wenig Berührung haben. Jedes Jahr entsteht eine neue Generation, und deshalb reicht es nicht, dass nur wir uns erinnern, unter uns bleiben. Es bringt nichts, wenn wir uns freuen, einander bei diesen Veranstaltungen wieder zu treffen. Natürlich fehlen uns die Zeitzeugen jetzt schon, sie sind das emotionalste Element bei der Erinnerung. Aber es geht ja um grundlegendere Fragen, nämlich was ist Aufklärung, was sind objektive Tatsachen, und was ist erfunden. All diese Dinge muss man permanent vermitteln, ohne besserwisserisch zu sein, aber schon auch mit einer gewissen Autorität.
Wina: Was meinen Sie damit?
AMP: Sich von Gewalt und Aggressivität zurückdrängen zu lassen, finde ich nicht richtig. Staatliche Autorität ist schon dafür einzusetzen, wofür sie eigentlich da ist, und klar zu sagen, was Sache ist. Das ist eine Aufgabe, der wir uns immer wieder neu stellen müssen. Ich versuche den jungen Menschen laufend zu vermitteln, dass sie gerade als Künstler und Künstlerinnen nicht isoliert leben, sondern Teil einer Gesellschaft sind, und über der Musik und Kunst ist es besonders wichtig, kritisches Bewusstsein zu schaffen.
Wina. Das jüdische Stadtmagazin, Februar 2022
Von Marta Halpert (Quelle)