Das bekleidete Bein, die zweite Haut fasziniert. Sie ist undurchsichtig genug, um Fehler zu verbergen, transparent genug, um Authentizität zu suggerieren. Die zweite Haut ist je nach Faser immer auch politisch: Nylon ist beispielsweise ein klassisches Krisenprodukt. Es wurde in den 1930er und 40er Jahren während des Zweiten Weltkrieges entwickelt und spielte eine Schlüsselrolle in der Bereicherung der US-Wirtschaft. Als Konsumgut sollte Nylon die Bedürfnisse und Wunsch-Träume einer ganz bestimmten Zielgruppe erfüllen: Weiblich gelesene Verbraucherinnen sollten sich durch das Tragen der Strumpfhose vorübergehend in einen imaginären, idealen weiblichen Körper verwandeln. Körperform und Identität sollten durch das Tragen des Produkts idealisiert werden. Nylon zog aber auch jene an, die sich affirmativ und ablehnend mit den Normen der Repräsentation der sozialen Kategorie „Frau“ sowie den ökonomischen Verhältnissen auseinandersetzen wollten. Im Gegensatz zur Seide ist Nylon ein erschwingliches Massenprodukt, das zwar teure Seide vortäuscht ohne tatsächlich Seide zu sein, aber im Umkehrschluss nicht wie Seide reparierbar ist. Eine Laufmasche genügt, und der Nylonstrumpf markiert als Wegwerfprodukt das Verfallsdatum der Repräsentation.
Der Vortrag Nylon. Re-Stagings von Mode-Fasern in den darstellenden Künsten widmet sich der Schauqualität, oder Show-Qualität, dieser Faser, und den Kontexten, in denen Nylon politisch wurde. Seine künstlerische Wiederverwendung leitet sich von einer Normkritik ab, die beispielsweise ein wichtiger Bestandteil der afro-diasporischen Performance-Kunst und seinem Verständnis von care wie auch von Widerstand im Black Arts Movement ist — aber auch eine Kritik am Patriarchat in der Performancekunst.
Basierend auf Arbeiten aus Tanzkunst, Film und Performance, wird vermittelt, inwiefern spezifische intersektionale und künstlerische Signaturen die Mode-Faser Nylon und ihre verwandten Texturen Seide oder Netz in neue Zusammenhänge versetzen.
Der Vortrag findet im Rahmen der Lehrveranstaltung Geschichte und Gegenwart des Tanzes von Eike Wittrock statt und ist offen für interessierte Gäste.
Dr.in phil. Mariama Diagne ist Tanzwissenschaftlerin am Collaborative Research Center SFB 1512 „Intervening arts“ an der Freien Universität Berlin, mit einem Hintergrund in Tanz und Praxis in Dramaturgie. In ihrer Arbeit versucht sie, eine diasporische Schreibweise in der tanzwissenschaftlichen Forschung zu entwickeln, zusammen mit einem poetologischen Ansatz zum Forschungsmaterial. Sie verfolgt das Verweben von Theorie, Praxis und dem Alltag in einer kritischen Untersuchung der Historizität des afro-diasporischen Tanzes und Kultur sowie deren Einbettung in eurozentrische Strukturen. Als Dramaturgin begleitet sie Künstler*innen in antikolonialen Kontexten. Von 2019 bis 2023 leitete sie den Vorstand der Gesellschaft für Tanzforschung (gtf), ist seit 2019 Mitglied des NFDI4C Steering Board for the Performing Arts, seit 2022 Mitglied der deutschen Unesco Kommission Immaterielles Kulturerbe und seit 2023 Mitglied der Jury für den Deutschen Tanzpreis.
Keine Anmeldung erforderlich.
Interessiertes Publikum nach Maßgabe freier Plätze herzlich willkommen.