Ein Seminar nicht nur für Lehrende
Mit der Einführung der Bachelor- und Masterabschlüsse verändert sich das Aufgabenprofil für die Studierenden der Konservatorium Wien Privatuniversität, aber auch auf die Lehrenden kommen neue Herausforderungen zu. Die künstlerisch-musikalische Ausbildung wird anhand der wissenschaftlichen Kunstreflexion vertieft. Zu der praktischen Interpretation, die sich in der Aufführung verwirklicht, gesellt sich die theoretische Durchdringung, das Zur-Sprache-Bringen von Kunst und Musik.
Selbstverständlich will und muss sich jede Kunstuniversität primär an der schöpferischen Phantasie und der spieltechnischen Brillanz ihrer Absolventinnen und Absolventen messen lassen. Die Einführung der neuen akademischen Grade an der Konservatorium Wien Privatuniversität steht jedoch weder in Konkurrenz zu diesem Auftrag noch beschränkt sie sich auf einen reinen Verwaltungsakt. Vielmehr eröffnet der Bologna-Prozess eine inhaltliche Gestaltungschance für die Institution, um das künstlerische Selbstverständnis der Studierenden herauszubilden und zu festigen.
Dies geschieht zunächst, indem die Qualifikation der Studierenden über Kunst und Musik nachzudenken und zu schreiben entwickelt wird. Das Ziel ist die selbstbestimmte Anfertigung der Examensarbeiten. Dabei werden Zusammenhänge zwischen Theorie und Praxis veranschaulicht und ein tieferes Verständnis ästhetischer Phänomene erreicht. So erweitert sich der Blickwinkel der Studierenden über die Grenzen der eigenen Profession hinaus. Sie lernen außerdem, ihre künstlerische Tätigkeit im gesellschaftlichen Kontext zu reflektieren. Sie erkennen den überragenden Wert der ästhetischen Bildung für eine zunehmend von ökonomischen Zwängen überformte Lebenswelt.
Das Seminar „Ästhetik für MusikerInnen und KünstlerInnen“ stellt an fünf Vormittagen Sujets und Strategien vor, die die Studierenden zu einem kunstgerechten wissenschaftlichen Arbeiten befähigen.
Der Philosoph Christian Tepe zählt zu den herausragendsten Begabungen auf dem Gebiet der philosophischen Ästhetik im deutschen Sprachraum. Er verbindet eine tiefe Einsicht in die Ästhetik als philosophische Disziplin mit einem umfassenden und inneren Verständnis ihres Gegenstandes, der Kunst, wobei sein Interesse hauptsächlich der Musik und dem Musiktheater in all seinen Facetten gilt. Seine anschauliche Art der Darstellung und seine Kompetenz haben ihn, neben seiner Hochschullehrtätigkeit in den Fächern Ästhetik und Ethik, zu einem gefragten Musikjournalisten z.B. für Künstlerportraits und Konzertrezensionen werden lassen. Publikationen (u.a.): „Ästhetik als Freiheitsdenken. Essays über das Schöne“ (Marburg 2001)
Die Termine, jeweils im Erkersaal (Raum 2.05) um 13.00 Uhr:
1. Was ist Ästhetik?
oder „Über Geschmack lässt sicht nicht streiten“
Freitag, 15. Dezember 2006
Das Sprechen über Kunst erschöpft sich nicht in der Eindeutigkeit der so genannten exakten Wissenschaften. Der Anspruch kühler unpersönlicher Objektivität ist mit der Individualität des Kunstwerks unvereinbar. Ebenso schließt die Subjektivität des Kunst erlebenden oder interpretierenden Menschen letztgültige Werturteile aus. Das ist eine besondere Qualität der Kunst.
Diese Einsicht bedeutet für die Studierenden zunächst eine Entkräftigung etwaiger Befürchtungen, mit der Abschlussarbeit ein kunstfernes, dogmatisches Wissenschaftsreglement bedienen zu müssen. An dessen Stelle tritt eine ästhetische Rationalität als das Bemühen, der Offenheit und Geschichtlichkeit der Kunstwerke Rechnung zu tragen, ohne bloßer Beliebigkeit anheim zu fallen. Auf der Grenze von Subjektivität und Objektivität strebt die Ästhetik danach, subjektive Assoziationen, Einfälle und Empfindungen der RezipentInnen in diskursfähige Aussagen zu übersetzen. Die Ästhetik ist deshalb die Grundlagenwissenschaft für ein dem Gegenstande adäquates begriffliches Sprechen über Kunst.
Eng verknüpft mit der Analyse der Struktur ästhetischer Urteile ist die Frage nach dem Wesen der Kunst: Wodurch werden Kunstwerke von anderen Gegenständen der Wirklichkeit abgegrenzt? In welcher Beziehung steht die Kunst zur Ethik, zu religiösen Ideen und zur Geschichte?
Insbesondere erforscht die Ästhetik den Zusammenhang zwischen Kunst und Gesellschaft: Wie sind die Kunstwerke jeweils mit der Gesellschaft verwoben, in denen sie geschaffen bzw. aufgeführt und rezipiert werden? Ein vordringliches Problem betrifft hier das Verhältnis der KünstlerInnen zu den gesellschaftlichen Eliten, deren Interesse an Kunst und Kultur gegenwärtig stetig abzunehmen scheint. Die Kulturschaffenden geraten so unter einen wachsenden politischen und ökonomischen Rechtfertigungsdruck. Der Entwicklung in den anderen europäischen Ländern kann sich auch Österreich in den nächsten Dekaden vermutlich nicht entziehen.
In dieser Konstellation wird es für die Kulturschaffenden und ihre Institutionen zu einer Überlebensfrage, dass sie neben der Evidenz ihrer Kreativität künftig für ihre künstlerischen Überzeugungen öffentlich gerade stehen und die Verantwortung übernehmen. Sie sollten sich deshalb in die vielerorts geführten Kontroversen um den gesellschaftlichen Stellenwert der Kunst aktiv und selbstbewusst einschalten und schon während des Studiums darauf vorbereitet werden. Dazu gehört die Kenntnisnahme und kritische Bewertung der zeitgenössischen philosophischen und politisch-soziologischen Diskurse zur Zukunft der Kunst. Entscheidend wird sein, inwiefern es gelingt, ein öffentliches Bewusstsein für die Kunst nicht allein als ökonomischen Faktor, sondern als unverzichtbare Voraussetzung für die Existenz einer menschenwürdigen Welt zu entwickeln.
2. Wege zum Schreiben über Kunst und Musik: „Textwerkstatt“
Freitag, 19. Januar 2007
Viele AbsolventInnen sehen sich am Ende ihres Studiums unvermittelt vor die Aufgabe gestellt, mit der schriftlichen Prüfungsarbeit einen Text zu verfassen, der wissenschaftlichen Kriterien genügen soll, ohne vielleicht darin die notwendige Übung zu haben. So begibt man sich eventuell auch der Chance, aus der Anfertigung der Examensarbeit einen ganz persönlichen Nutzen in Gestalt einer resümierenden Rückschau auf das eigene Studium zu gewinnen. Von den pädagogischen Möglichkeiten, die Studierenden gezielt auf die Abschlussarbeit vorzubereiten, handelt die dritte Veranstaltung.
Als Lösung bietet sich eine Textwerkstatt an, in der die Studierenden im Verlauf der Semester wiederholt eigene kleine Essays zu Themen ihrer Wahl schreiben und im Seminargespräch begutachten lassen. Das ermöglicht die genaue Klärung des wissenschaftstheoretischen Status von Texten zu ästhetischen Fragestellungen. Zugleich werden dabei die gängigen Techniken wissenschaftlichen Arbeitens wie die Themenfindung, die Materialsuche, das Erstellen einer Gliederung, Bibliographieren und Zitieren etc. eingeübt. Idealerweise entstehen so bereits während des Studiums einzelne Bausteine der künftigen Abschlussarbeit.
Über die formalen Aspekte hinaus kommt den verschiedenen qualitativen Modellen geisteswissenschaftlicher Textproduktion herausragende Bedeutung zu. Hier geht es um Fragen der Interpretationsästhetik: Wie kann das, was als Kunstwerk behauptet wird, verstanden werden? Zum Vergleich kommen psychologisch-biographische, soziologische, ideen- oder stilgeschichtliche und werkimmanente Ansätze. In punkto der Methodenwahl ist eine größtmögliche Vielfalt wünschenswert.
Zu den Veranstaltungen 3-5: Vergleiche zur Wechselwirkung zwischen dem Entstehen von Kunst und deren philosophiegeschichtlichen Pendants
Als geschichtliche Erscheinungen stehen Kunst und Musik neben anderen Erscheinungen der geistigen Welt. Die Gemeinsamkeiten im Denkansatz von schöpferischen Künstlern und wissenschaftlichen Autoren betreffen einerseits inhaltlich-weltanschauliche Überzeugungen. Andererseits lassen sich analoge Formfindungsmodelle bei der philosophischen Gedankenkonfiguration und bei der Komposition des musikalischen Materials beobachten. Das Procedere zur Hervorbringung wissenschaftlicher Erkenntnis ist oft künstlerischen Gestaltungsprinzipien bei allen Unterschieden der beiden Kulturen verblüffend ähnlich. Wenn die Studierenden der Konservatorium Wien Privatuniversität durch den Bologna-Prozess veranlasst werden, Kunst auch wissenschaftlich zu betrachten, bewegen sie sich somit selbst methodisch nicht auf fremdem Terrain. Der Komponist Pierre Boulez geht sogar so weit, die Wissenschaft als konstitutives Moment der Musik zu begreifen: „Kunst, Wissenschaft, Handwerk - diese drei Aspekte des Phänomens Musik sind in einem unauflöslichen Bündel vereinigt.“
3. Sehnsucht nach Utopia:
Ein gemeinsames Vermächtnis von Philosophie und Musiktheater
Freitag, 23. Februar 2007
Auch wenn prominente Kritiker der Oper wie Voltaire aus den Reihen der Philosophie stammen, so teilen doch beide Kulturleistungen die Hoffnung auf ein menschenwürdigeres Dasein. Schon allein die beglückende Sinnlichkeit einer gelungenen Opernaufführung, die vollkommene Übereinstimmung zwischen Ton, Bild und Gebärde erscheinen wie das utopische Wunschbild einer in der gesellschaftlichen Realität fast unerreichbaren Harmonie und Lebensfülle.
In der Zeitspanne zwischen dem Ende des Ancien Régime und dem 20.Jahrhundert hat das Musiktheater inhaltlich eine Vielzahl konkreter Impulse aus der Philosophie empfangen und umgekehrt an sie abgegeben. Ein Epoche machendes Beispiel ist die Vermenschlichung jener abstrakten Idee von Sittlichkeit, wie sie Kant mit dem Kategorischen Imperativ formulierte, in Beethovens Gestalt der Leonore. Diese musikdramatische Verkörperung eines philosophischen Prinzips hat ein Jahrhundert später wiederum Ernst Bloch zu seinem theoretischen Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ inspiriert. Ein noch dichteres Geflecht von Wechselwirkungen zwischen Kunst und Philosophie umrankt das Musikdrama Richard Wagners, in das verschiedene Strömungen der zeitgenössischen Philosophie von Ludwig Feuerbachs Anthropologie bis Arthur Schopenhauers Kunstphilosophie eingeflossen sind. Wagners Musiktheater prägt daraufhin die Überzeugung des jungen Friedrich Nietzsche von einem privilegierten Wahrheitsanspruch der Kunst.
Doch sogar jenen Opernschöpfungen, denen gemeinhin keine philosophischen Ambitionen nachgesagt werden, eignet häufig ein utopischer Kern. Bei den Frauenfiguren Verdis, Puccinis oder Janáceks wäre dies eine mit musikalischen Mitteln ausgedrückte spezifisch weibliche Ästhetik als Plädoyer für Subjektivität, Individualität und Liebe und gegen die Verhärtungen einer in Konventionen erstarrten Welt. Gerade darin ist in verwandelter Form eine der Ursprungsintentionen des Gelehrtenkreises der Florentiner Camerata aufbewahrt: mit der Monodie die Perspektive des Einzelnen stark zu machen.
4. Der Philosoph als Musiker:
Theodor W. Adornos Kritische Theorie der Gesellschaft als philosophische Hommage an die Musik der Zweiten Wiener Schule
Freitag, 23. März 2007
Die maßgeblich von Adorno geprägte „Kritische Theorie“ gehört zu den einflussreichsten philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Betrachtet man ihre Ursprünge, die Auseinandersetzung Adornos mit der Wiener Musikkultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ließe sich mit größerem Recht von einer „Wiener Schule“ denn von der „Frankfurter Schule“ sprechen. Im autonomen Künstler der Wiener Avantgarde sieht Adorno das Ideal des freien Individuums. Die Befreiung der Musik von der Grundtonbezogenheit interpretiert er als das Modell einer gesellschaftlichen Befreiung. Das reicht tief bis in die ungewöhnliche Bauart seiner Texte hinein. Adornos Verzicht auf eine lineare thesenzentrierte Gedankenentfaltung zugunsten einer konstellativen Denkbewegung entspricht dem Vermeiden von tonalen Bezugspolen sowie der Gleichrangigkeit der Töne in der Musik. Wo es in der Musik um eine Emanzipation des Tones von der Determination durch die Tonalität geht, strebt Adorno durch seine hermetische Sprache die Befreiung des Denkens von der alltäglichen Informationssprache und ihren inhaltlichen Begrenzungen an.
5. „Ästhetisches Labor“
für Jazz, Bühnentanz und postmodernes Theater
Freitag, 4. Mai 2007
Selbstverständlich existieren auch künstlerische Phänomene, für welche die Instruktionskraft der philosophischen Ästhetik noch nicht genug Tiefenschärfe ausgeprägt hat. In der letzten Veranstaltung geht es um solche Strukturvergleiche ex negativo, die einen vielversprechenden Raum für künftige Forschungsaktivitäten an der Konservatorium Wien Privatuniversität eröffnen.
Ein Paradebeispiel für die misslungene theoretische Aneignung künstlerischer Praxis stellt Adornos Verkennung des Jazz als „Kulturindustrie“ dar. Durch die Verabsolutierung der klassischen Moderne und der Stellung des Komponisten entgeht Adorno die besondere Qualität der improvisierten Musik: ihr Ereignischarakter. Jazz ist bekanntlich kein statisches Objekt, kein Produkt, sondern eine interaktiv hervorgebrachte Musik mit spontanen wie präformierten Anteilen.
Der ästhetischen Kategorie des Ereignisses kommt - neben einer Theorie des Jazz - für weitere Kunstgattungen eine herausragende Bedeutung zu. So nutzt zum Beispiel der Choreograf William Forsythe die Improvisation nicht allein als Vehikel für den Suchprozess nach tänzerischen Bewegungsformen, sondern er experimentiert mit Aufführungen, bei denen Bewegung und Musik auf eine vorher nicht festgelegte Weise zusammentreffen, um so etwas genuin Neues entstehen zu lassen. Hiermit korrespondieren aktuelle Tendenzen des von der Postmoderne befruchteten, so genannten „postdramatischen Theaters“: Auf der Bühne soll demnach nicht mehr gespielt, sondern gehandelt werden. Die überkommene Einheit des Werkes und die Rollenidentität der DarstellerInnen werden aufgebrochen, damit die auf der Bühne agierenden Personen als direkte Ausdrucksträger eines immer unübersichtlicher werdenden Lebens hervortreten können, das sich durch die meisten historischen Dramenformen nicht mehr abbilden lässt.
Im Plenum sollen - auch in Hinblick auf mögliche Forschungsaktivitäten der Universität - gemeinsam Überlegungen zu diesen von der ästhetischen Theoriebildung bislang eher weniger beachteten Gattungen angestellt werden.