Ende Juni unternahm Michael Gailit mit seinen Studierenden eine Orgelstudienfahrt nach Norddeutschland. In seinem Bericht gibt der Lehrende der KWU interessante Details der Reise wider.
Keine Orgel gleicht der anderen, heißt es. Eine grobe Vereinfachung. Selbst in derselben Stilepoche des Barock sind Orgeln aus Süd-, Mittel- und Norddeutschland ganz anders aufgebaut, gar nicht zu reden von den Unterschieden zu italienischen oder gar französischen Instrumenten. Orgelkomponisten schufen also in der Regel ihre Werke für Instrumente mit zahlreichen Besonderheiten in Klang und Aufbau. Die Interpretation gemäß den wichtigsten Zeit- und Nationalstilen differenzieren zu können ist daher unerläßlich. Tiefes Verständnis und Erleben bieten Orgelstudienfahrten zu historischen Instrumenten. Sie ermöglichen es, adäquate Klangrealisierungen und Spieltechniken zu entdecken. Die gewonnenen Erkenntnisse können dann näherungsweise auf anderen Orgeln nachgeahmt werden.
Die Hansestadt Lübeck beherbergt einerseits eine bedeutende Musikhochschule, andererseits in der Jakobikirche zwei der herausragendsten historischen Orgeln im norddeutschen Raum. Arvid Gast, in Lübeck Professor für Orgel und Organist an St. Jakobi, ermöglichte Studierenden der Orgelklasse der Konservatorium Wien Privatuniversität, auf diesen beiden Orgeln ein Konzert zu gestalten. Dies bot im Anschluß die Gelegenheit, die bedeutendsten Orgeln der Gegend aus Barock und Romantik kennenzulernen und 429 Register auf 26 Manualen intensiv auszuprobieren. Mehrere Konzertbesuche vertieften den Eindruck der norddeutschen Orgellandschaft.
Montag, 25. Juni: Gleich am Anreisetag stand in St. Jakobi Lübeck Ungewöhnliches am Programm. Ein ungewöhnlicher Orgelkompositions- und -improvisationsabend von Franz Danksagmüller, Orgelprofessor in Lübeck, und Karl-Heinz Essl, Professor für elektroakustische Komposition an der Universität für Musik Wien, beide auch ehemalige Klavierstudenten von Michael Gailit.
St. Jakobi Lübeck war Wirkungsstätte des Organisten und bekannten Komponisten Hugo Distler (1908-1942). Der Hamburger Raum präsentiert sich nicht nur bedeutsam als Orgellandschaft mit zahlreichen historischen Instrumenten, sondern war im 20. Jh. auch ein Zentrum der sogenannten Orgelbewegung. Die Orgelbewegung besann sich – nach dem Niedergang von Orgelbau und Orgelklang im Deutschland des ausgehenden 19. Jh. – auf die Bau- und Klangqualitäten alter Orgeln. Das Ziel war die ideale Orgel. Daraus resultierte jedoch neues: der neobarocke Orgeltypus. Dem entsprach die Entwicklung der neobarocken Kompositionsweise, in der Hugo Distler wegweisende Orgelwerke eben in St. Jakobi Lübeck schuf.
Die Chororgel (3 Manuale, 33 Register) errichtete Friedrich Stellwagen 1636, die große Orgel (4 Manuale, 68 Register) geht im wesentlichen auf Joachim Richborn 1671-73 zurück. Beide Orgeln enthalten älteste, noch aus der Gotik stammende Pfeifen. Aydan Alakbarova und Hyun-Ah Park, Studierende der Orgelklasse Michael Gailit, führten Dienstag abends auf beiden Instrumenten vor gut besuchter Kirche Werke von Nicolaus Bruhns, Samuel Scheidt, Dieterich Buxtehude, Johann Sebastian Bach, Max Reger und Flor Peeters auf.
Arp Schnitger, der prägende Orgelbauer seiner Zeit, war so bedeutsam, daß nur mit seiner Zustimmung andere Orgelbauer in Schnitgers Wirkungsbereich tätig werden durften. Mittwoch, 27. Juni: Der erste Orgelbesuch galt gleich Schnitgers größter Orgel in St. Jakobi in Hamburg. Das Instrument (4 Manuale, 60 Register) spielte auch eine zentrale Rolle in der erwähnten Orgelbewegung. 1993 und damit 300 Jahre nach der Errichtung schloß Jürgen Ahrend – der führende Restaurator in diesem Orgelstil – seine umfangreiche Renovierung des außergewöhnlichen Instrumentes ab. Die aufgewendeten 6.000.000,- Deutsche Mark markierten die teuerste Restaurierung aller Zeiten. Nachdem wir den ganzen Nachmittag die Orgel spielen durften, kamen wir am Abend noch in den Genuß eines Chor-Orgel-Konzertes mit Rudolf Kelber, Organist und Kirchenmusikdirektor von St. Jakobi Hamburg.
Donnerstag, 28. Juni: Gerade mitten in einer Restaurierungsphase befand sich die Furtwängler-Orgel von 1859 in St. Petri in Buxtehude. Vor der spielenden Erkundung erhielten wir so eine detaillierte Beschreibung des bedeutenden romantischen Instrumentes (3 Manuale, 52 Register) durch den anwesenden Orgelbauer Rowan West.
Das etwas weiter nördlich gelegene Städtchen Stade kann gleich zwei weltweit bekannte Orgeln vorweisen. In St. Cosmae, der Wirkungsstätte von Vincent Lübeck (1654-1740), steht ein Instrument mit 42 Registern und 3 Manualen von Berendt Huß (1668-73) und Arp Schnitger (1688/1702), in St. Wilhadi errichtete der Schnitger-Schüler Erasmus Bielfeldt 1730-35 ein Instrument mit teilweise süddeutschem Einschlag mit 40 Registern auf 3 Manualen. Kein Wunder, daß Stade jährlich eine gefragte internationale Orgelakademie veranstaltet. Deren Leiter Martin Böcker führte uns liebenswürdigerweise ausführlich in beide Orgeln ein, bevor wir unserem Spieltrieb nachgeben durften. Das Konzert abends in St. Wilhadi wurde zur Zeitreise: Historische Orgelmusik an historischer Stätte und historischer Orgel in historischer Aufführungspraxis, kombiniert mit Texten und Gesängen der Zeit, die das Denken einer längst vergangenen Generation deutlich fühlbar werden ließen. Über allem die Klänge der Bielfeldt-Orgel, nicht nüchtern-objektiv wie auf anderen Orgeln leider so häufig, sondern feurig emotionell und lebendig mitreißend – allein dieser Moment wäre die Reise wert gewesen.
Zuletzt Freitag, 29. Juni, in Hamburg-Neuenfelde, in unmittelbarer Nähe zum Vogelschutzgebiet Finkenwerder und zum Airbus-Werk. Dessen Riesenvogel A380 hatte eine größere Start- und Landebahn erfordert. Deren maximale Verlängerung genau durch St. Pankratius samt Arp-Schnitger-Orgel fand gnädigerweise dann doch nicht statt. Statt Kirche und Orgel zu entfernen, sieht sich der A380 gezwungen, bereits ein paar hundert Meter vorher vom Boden zu erheben. Es ist das größte erhaltene zweimanualige Instrument von Arp Schnitger (2 Manuale, 34 Register), noch dazu in seinem Wohnort und seiner letzten Ruhestätte. Eine kompetente Restaurierung steht noch aus, dennoch erlebten wir Klang- und Musiziereindruck eindrucksvoll. Das gut zugängliche Innenleben der Orgel ließ anschaulich Aufbau des Orgelwerks samt Technik verstehen.
Am Ende von Tag und Reise die größte: 100 Register auf 4 Manualen, unlängst Instrument für eine neue Gesamtaufnahme der Orgelwerke Franz Schmidts durch den Freiburger Orgelprofessor Martin Schmeding. Die spätromantische Orgel des Bremer Doms. Sie errichtete 1894 Wilhelm Sauer, neben Friedrich Ladegast und Eberhard Friedrich Walcker einer der drei Großen des deutsch-romantischen Orgelbaus. Nach der Schnitger-Welt saßen die Studierenden zunächst etwas ratlos vor den Registern, diktierte die Orgel ihnen doch völlig andere Interpretations- und Registrierweisen. Barocke Aufführungspraxis verpuffte wirkungslos. Dagegen führte die Spielkunst nach Art Max Regers und seines Organisten Karl Straube mit Auf und Ab der Dynamik und Nutzung aller Manuale zu wirkungsvoller Darstellung. Reich beschenkt kamen wir zu Hause an.
Bericht und Fotos von Michael Gailit