Anlässlich der Aufführungsserie von "Der kaukasische Kreidekreis" – ein Gespräch mit Ong Keng Sen (Regisseur), Airan Berg (künstl. Leiter Schauspielhaus) und Ranko Markovic (künstl.-pädagogischer Leiter Konservatorium Wien Privatuniversität)
Das Gespräch führte Christian Arseni (Konservatorium Wien Privatuniversität).
C.A.: Wie wurde die Idee geboren, Ong Keng Sen mit der Inszenierung des Kaukasischen Kreidekreises zu betrauen?
Airan Berg: Ong Keng Sen und das Schauspielhaus verbindet eine langjährige Arbeitsbeziehung. Es ist mir als Leiter dieses Theaters wichtig, solche langfristigen, intensiven Dialoge zu etablieren, um herauszufinden, was ein Regisseur hier wirklich tun möchte. Ong Keng Sen hat ein ausgeprägtes Sensorium für die politischen und sozialen Entwicklungen an einem bestimmten Ort und empfindet instinktiv, was er den Menschen dort mitteilen will. Theater muss global denken, zugleich aber lokal, auf einen spezifischen Ort bezogen sein.
Als ich mit Ong Keng Sen über die Weiterführung unseres künstlerischen Dialogs sprach, erwähnte er sein großes Interesse an Brecht und am Kaukasischen Kreidekreis, gerade wegen der diesem Stück innewohnenden Verbindung von Ost und West. Ong Keng Sen bildet für mich eine Art Brücke zwischen den asiatischen und den europäischen Kulturen, sowohl im Hinblick auf die Inhalte seiner Arbeiten als auch auf die eingesetzten theatralischen Mittel.
C.A.: War schon zu Beginn der Entwicklung des Kreidekreis-Projektes an die Kooperation mit einer Kunstuniversität gedacht?
Airan Berg: Der Vorschlag eines gemeinschaftlichen Projekts kam von Tim Kramer, dem Vorstand der Schauspielabteilung der Konservatorium Wien Privatuniversität, der 2002 selbst mit Ong Keng Sen zusammengearbeitet hatte. Ich wusste, dass Ong Keng Sen u. a. in Singapur Studenten in seine Projekte eingebunden hatte, und so kam die Idee zustande, professionelle Schauspieler und Studenten in der Kreidekreis-Produktion zusammenzubringen. Als wir für Dessaus Musik auch musikalische Abteilungen der Universität einbezogen, wurde aus dem interinstitutionellen ein auch interdisziplinäres Projekt.
C.A.: Herr Ong, der Austausch mit angehenden Künstlern ist Ihnen ein großes Anliegen. Was möchten Sie der jüngeren Generation vermitteln?
Ong Keng Sen: Ich denke, es ist sehr wichtig, auf jüngere Künstler während des „Heranwachsens“ in ihrer künstlerischen Disziplin einzuwirken. Unser Theater ist schließlich nur so gut wie die zukünftige Generation. Manchmal scheint mir, die Studenten werden im Lauf ihrer Ausbildung zu „alten“ Menschen. Stattdessen sollten wir doch ihre Jugend, ihre Energie der Kunst nutzbar machen. Die beste Zeit, um auf junge Künstler Einfluss zu nehmen, ist natürlich die Ausbildung: In dieser Phase sollte man sie mit den verschiedensten künstlerischen Möglichkeiten und Eindrücken konfrontieren.
Gerade bei der Verschmelzung von europäischem Theater und chinesischer Oper, die mir für den Kreidekreis vorschwebte, brauchte ich junge, unvorbelastete Köpfe, die offen für einen Prozess waren: Denn sie mussten viele „seltsame“ Dinge mit ihrem Körper machen und auf „seltsame“ Weise mit dem Publikum interagieren — seltsam insofern, als hier in Wien bei der Theaterarbeit natürlich ein bestimmter europäischer, „deutscher“ Fokus vorherrscht. Von den Schauspielern etwa zu verlangen, einander beim Sprechen nicht anzusehen, ist zwar nichts Neues, für viele aber immer noch etwas Ungewöhnliches.
Dass das Projekt durch die Einbindung der Orchestermusiker zu einem auch interdisziplinären Dialog zwischen Schauspielern und Musikern führte, schien der Geist des Stücks geradezu zu verlangen. Im Übrigen dreht sich meine ganze Arbeit darum, Menschen zusammenzubringen.
C.A.: Empfinden Sie die Ausbildung an Kunstuniversitäten im Vergleich zu Ihrem „globalen“, interdisziplinären Ansatz nicht als sehr eingegrenzt?
Ong Keng Sen: Kunstuniversitäten haben bestimmte Verantwortlichkeiten: Sie müssen Ergebnisse, nämlich Künstler einer bestimmten Qualität hervorbringen. Bei meiner persönlichen Arbeit geht es mir hingegen vor allem um Prozesse. Auch für Kunstausbildungsinstitutionen schwebt mir die Einführung einer prozessorientierten Pädagogik vor, einer Laboratoriumssituation, in der nicht allein das Ergebnis zählt. Projekte wie der Kreidekreis ermöglichen zumindest temporär einen „Prozessraum“, in dem Studenten zu sich selbst finden und ein eigenes Werk hervorzubringen können, d. h. wirklich kreativ sind. Ich möchte sie ermutigen, nicht nur zu „interpretieren“, sondern tatsächlich etwas zu schaffen.
C.A.: Welche Bedeutung hat die Kooperation mit dem Schauspielhaus für die Konservatorium Wien Privatuniversität?
Ranko Markovic: Natürlich besteht an einer Kunstuniversität die Notwendigkeit, viele Prozesse zu „schützen“, sie in einem abgeschirmten Raum ohne Erwartungen von außen stattfinden zu lassen. Nur dort können sich Talente ruhig entwickeln. Dieser Bereich muss allerdings nach und nach geöffnet werden. Idealerweise sollte die innerhalb der Institution gebotenen Sicherheit so stark sein, dass sie der punktuellen, totalen Öffnung nach außen die Waage hält. Das Kreidekreis-Projekt ist nicht zuletzt deshalb herausfordernd, weil in diesem Fall nicht bloß die Präsentation des Ergebnisses, sondern bereits dessen Erarbeitung in einem geöffneten Raum stattfindet. Besonders für die Musikstudenten stellt diese Erfahrung, Teil eines theatralischen, kreativen Prozesses zu sein, eine Neuheit und Herausforderung an die eigene, auch organisatorische Flexibilität dar. Visionen über Interdisziplinarität und die Zusammenarbeit verschiedener Abteilungen zu entwickeln, fällt den Lehrenden und Studierenden ja nicht schwer, diese Visionen dann aber in der täglichen Arbeit konkret umzusetzen, ist eine andere, nicht immer leichte Angelegenheit.
Von ihrer inneren Struktur her ist die Konservatorium Wien Privatuniversität zu einem interdisziplinären Ansatz ja geradezu prädisponiert. Einerseits gibt es hier ein außergewöhnlich vielfältiges Angebot an Fächern (allein die darstellenden Künste sind mit Schauspiel, Tanz, Oper, Operette und Musical vertreten), andererseits wird die Durchführung interdisziplinärer Projekte durch die relativ schmale administrative Struktur der Universität noch zusätzlich erleichtert.
C.A.: Wird das Schauspielhaus auch in Zukunft mit Kunstuniversitäten zusammenarbeiten? Könnte die Kreidekreis-Produktion dabei auch in ihrem innovativen, interdisziplinären Charakter vorbildhaft sein?
Airan Berg: Seitdem ich künstlerischer Leiter des Schauspielhauses bin, versuche ich einen Dialog mit Ausbildungseinrichtungen zu pflegen. Gerade in Wien sind die Institutionen oft ganz in sich abgeschlossene Bereiche, und es besteht zu wenig Kontakt zwischen Studenten und professionellen Künstlern — obwohl der Austausch für beide Seiten sehr fruchtbar sein kann. Ich denke, dass der Wandel der Schauspielhauses, sowohl was die Leitung als auch was die organisatorische Struktur des Theaters anbelangt, uns die Schaffung eines Modells für weitere Kooperationen in diesem Bereich ermöglicht.
Multidisziplinäres Theater ist in Wien übrigens keine Selbstverständlichkeit: Statt zusammenzuarbeiten, scheinen Sprechtheater, Musiktheater, Tanztheater usw. eher darum bemüht, Grenzen zwischen sich zu ziehen. Wir vergessen dabei immer, dass das Theater (und zwar auch das europäische Theater) seinen Ursprung in einem solchen multidisziplinären Ansatz hat, in einer Mischung aus Musik, Tanz, Masken, Bewegungen, Worten. Ong Keng Sens Stärke liegt nun genau in der bewussten Einbeziehung all dieser verschiedenen Ebenen und der Art und Weise, wie er sie zu einem einheitlichen Kunstwerk vereint. Für die Beteiligten bedeutet die Mitwirkung an dieser Produktion auch zu begreifen, dass es viele verschiedene — vom „akademischen“ Weg durchaus abweichende — Arten gibt, Theater zu machen.
Insgesamt fügt sich das Kreidekreis-Projekt sehr gut in die Philosophie des Schauspielhauses ein: Unser Theater ist sehr prozessorientiert und versucht, den Künstlern nicht nur die bestmöglichen zeitlichen und personellen Arbeitsbedingungen, sondern auch künstlerische Erfahrungen zu ermöglichen, die sie hier in Wien ansonsten nicht machen würden, die sie in ihrer Arbeit und ihrem Leben aber entscheidend bereichern. In dieser Hinsicht bildet Ong Keng Sen einen der Grundsteine der letzten Jahre des Schauspielhauses.
C.A.: Herr Ong, in Ihrer bisherigen Auseinandersetzung mit europäischen Theatertexten (etwa in Ihrer Shakespeare-Trilogie) haben Sie mit asiatischen Künstlern aus verschiedenen Traditionen zusammengearbeitet und deren ganz unterschiedliche Herangehensweisen für Ihre Inszenierungen genutzt. In der Kreidekreis-Produktion hatten Sie nun mit einer „monokulturellen“ Besetzung zu tun.
Ong Keng Sen: Die Besetzung ist zwar monokulturell — auch wenn die sehr unterschiedlich ausgeprägten Individualitäten der Schauspieler eine solche Bezeichnung vielleicht gar nicht rechtfertigen —, Brechts Stück aber ist nicht monokulturell, sondern verschmilzt zwei Kulturen. Der Kaukasische Kreidekreis geht ja auf ein altes chinesisches Stück zurück: Brecht übernahm inhaltliche wie auch formale Elemente und transformierte sie in seine eigene Sprache. Die Inszenierung konnte also von vornherein kein monokulturelles Projekt werden.
Anfang der 1990er Jahre las ich als Student in New York Brechts Schriften über den Verfremdungseffekt und belächelte seine Auffassung des chinesischen Theaters, da ich etwas ganz anderes darunter verstand. Als ich mich nun mit dem Kreidekreis beschäftigte, war ich allerdings höchst erstaunt: Das ist chinesisches Theater! Dem asiatischen Theater entspricht vor allem die Art und Weise, wie Brecht Musik und Theater kombiniert, wie die Musik einer Situation, die zunächst nur durch den Text und das Spiel vermittelt wurde, eine neue, andere Perspektive verleiht. Dieselbe Situation wird also auf verschiedenen Ebenen durchgespielt.
C.A.: Durch den 1. Akt gibt Brecht eine eindeutige politische Interpretation der Kreidekreis-Geschichte. Empfinden Sie diesen ideologischen Aspekt des Stücks als historisch? Oder kann er aktuelle Relevanz beanspruchen?
Ong Keng Sen: In der Auseinandersetzung mit Brechts Stücken wird natürlich sofort evident, dass die Arbeiterklasse verschwunden ist, dass die meisten von uns einer Mittelklasse angehören, deren Anschauungen bourgeois sind, und dass wir gar nicht mehr verstehen können, was die Situation der Arbeiterklasse im Sinne Brechts überhaupt bedeutet. Was sollen wir mit diesen Texten also heute anfangen?
Ich finde es sehr wichtig, eine zeitgemäße, urbane Interpretation von Brecht im Hier und Heute zu liefern. Am Kaukasischen Kreidekreis fasziniert mich, dass er Licht auf Probleme und Schwierigkeiten unserer heutigen Welt werfen kann: auf Fragen heutiger Identität und die Möglichkeiten moralischer Urteile. Junge Künstler sind oft gezwungen, ihre eigene Individualität überhaupt erst zu entdecken. Ihre Ausbildung macht aus ihnen nicht selten Klone, Schauspieler werden auf bestimmte Rollentypen hin trainiert. Brechts heutige Relevanz ist hingegen vor allem darin begründet, dass er ganz spezifische, individuelle Charaktere schuf (wenn auch immer im Sinne seines didaktischen Theaters als Repräsentanten einer bestimmten sozialen Klasse): Grusche, Azdak, ja selbst die Gouverneursfrau.
In unserer Produktionssituation mit über 20 Schauspielern ging es mir darum, diese verschiedenen Charaktere des Stücks auszuloten. Gleichzeitig habe ich mich dazu mit den Schauspielern auf die Suche nach der eigenen Identität begeben, nach ihrer jeweiligen politischen und sozialen Position. Das Stück findet in meiner Inszenierung auf einer Art Laufsteg statt: Es ist fast wie bei einer Modenschau mit den in dieser Situation impliziten klassenähnlichen Strukturen. — Und dann ist es in unserer komplexen Welt so schwierig zu sagen: Wer hat recht und wer nicht? Wer ist gut und wer ist böse? Ist George Bush ein Teufel oder ein Idiot? Was halten wir vom Islam? Ist China ein kommunistisches oder ein kapitalistisches Land?
Bei all den Veränderungen in unserer Welt müssen wir Brechts Stück mit neuen, unbefangenen Augen interpretieren — gerade deswegen ist mir die Arbeit mit den Studenten so wichtig. Allerdings würde ich nächstes Mal auch die Musiker schon sehr früh in den kreativen Prozess einbinden wollen.
Airan Berg: Wunderbar an der gemeinsamen Arbeit am Kaukasischen Kreidekreis ist, dass die Studenten als wirklich gleichberechtigte Partner mit den professionellen Schauspielern zusammenarbeiten und nicht etwa nur die kleineren Rollen übernehmen. Auch was das Orchester angeht, ist es ein einzigartiges Projekt, da die Instrumente solistisch besetzt sind. Die Musik ist keine „Umbaumusik“, sondern ein wesentlicher Bestandteil des Theaterstücks. So sind auch die Musiker gewissermaßen Hauptdarsteller.
Ranko Markovic: Vor allem Orchestermusiker haben ja oft wenig Selbstbewusstsein und fassen sich als Teile einer Maschinerie ohne große Selbstverantwortung auf. In der Kreidekreis-Produktion wird ihre Emanzipation gefordert: Sie agieren auch örtlich auf derselben Ebene wie die Schauspieler. Die Basis von echter Zusammenarbeit bildet ja letztlich die Emanzipation der einzelnen Beteiligten.
Ong Keng Sen: Das Kreidekreis-Projekt, in der die einzelnen Schauspieler und Musiker selbstverantwortlich am Werk teilhaben und es damit auch als ihnen „zugehörig“, als etwas Eigenes betrachten, ist also ganz in Brechts Sinne: Denn genau um diese Emanzipation ging es Brecht — um eine Befreiung, im Zuge derer die Menschen ihr eigenes Selbst entdecken und ihre eigene, individuelle Position finden.
Die Frage der Emanzipation ist übrigens auch für die Zuschauer von Bedeutung: Die Kreidekreis-Inszenierung ist sehr vielschichtig aufgebaut. Mehrere Dinge geschehen gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen. Der Zuschauer befindet sich im selben Raum wie die Darsteller und die Musiker und muss seine eigene Wahl treffen, wen oder was er in einem bestimmten Moment betrachten und wahrnehmen will. Jeder muss also seinen eigenen Weg finden.