Fordern und Fördern

Mi, 15.02.2006
  • InstrumentalsolistInnen
  • Orchester/Ensembles/Kammermusik
  • Oper/Operette/Lied/Chor

Anlässlich des Fidelio-Wettbewerbs 2006 sprachen Boris Kuschnir, Wilhelm Sinkovicz und Ranko Markovic über das Phänomen Musikwettbewerbe

Es gibt heute eine fast schon unüberschaubare Zahl an Musikwettbewerben. Was ist ihr Sinn und Zweck?

Kuschnir Wettbewerbe bieten jungen Musikern die Gelegenheit, sich zu präsentieren und vielleicht zu einem Preis und zu ein paar Konzerten zu kommen.In der Sowjetunion waren Wettbewerbe früher eng mit der Politik verbunden: Internationale Wettbewerbe boten die Möglichkeit, die Superiorität gegenüber dem Westen zu beweisen und tatsächlich haben die sowjetischen Kandidaten meist überdurchschnittlich gut abgeschnitten. Zu diesem Zweck wurde in der Sowjetunion allerdings eine ganze Wettbewerbsmaschinerie betrieben, wobei auch die Lehrer von Preisträgern stark unterstützt wurden und Orden, Ehrungen und Professuren erhielten.

Inwieweit kann ein Preis bei einem großen Wettebwerb den Karriereeinstieg erleichtern?

Kuschnir Ein wichtiger Wettbewerbspreis ist noch keineswegs die Garantie für eine Karriere. Das liegt auch daran, dass viele Wettbewerbsjurys ihre eigentliche Aufgabe - nämlich wirkliche Talente ausfindig zu machen – leider gar nicht wahrnehmen.

Was zeichnet eine gute Jury aus?

Kuschnir Ein Problem ist, dass die einzelnen Jurymitglieder oft ganz unterschiedliche Vorstellungen von einer guten oder richtigen Interpretation haben. Tatsächlich besteht die größte Schwierigkeit für die Wettbewerbsteilnehmer darin, von der ersten in die zweite Runde zu kommen. Es reicht, wenn ein Juror der Meinung ist, man könne Bach oder Schubert so nicht spielen, und der Kandidat scheidet aus.

Markovic Gerade wenn Lehrer in der Jury sitzen, erinnert ein Musikwettbewerb oft an einen Eiskunstlaufwettbewerb: Man geht von einem Ideal aus und für jeden Fehler gibt es Abzüge. Warum solche Kriterien an die Kunst angelegt werden, ist mir ganz unerklärlich. Man sollte doch vielmehr von einer Basis ausgehen und das Positive statt des Negativen vermerken. Es ist auch nicht einzusehen, warum etwa eine Geigenwettbewerbsjury nur aus Geigern und nicht auch aus Klarinettisten oder Sängern bestehen soll. Die Jury des Fidelio-Wettbewerbs vereinigt übrigens Künstler ganz verschiedener Sparten, Pädagogen und Manager.

Sinkovicz Die Folge reiner Lehrerjurys ist einerseits eine geradezu perverse Technikhörigkeit, die außer Lehrer niemanden interessiert. Begünstigt wird dadurch aber auch die – leider immer stärker dominierende – Stromlinienförmigkeit der Interpretationen: Nur keine Fehler machen, nicht zu auffällig spielen und nur nichts wagen.

Demnach hätte jener Bewerber die größten Chancen, der es allen Jurymitgliedern am ehesten recht macht und kein Extrem riskiert? Für Glenn Gould hätte es schlecht ausgesehen.

Sinkovicz Glenn Gould wäre in der ersten Runde ausgeschieden! Eine herausragende Interpretenpersönlichkeit hat bei einem durchschnittlichen Wettbewerb – solange die Jury großteils aus Lehrern besteht – überhaupt keine Chance.

Kuschnir Tatsächlich kann es für ausgezeichnete Musiker sehr riskant sein, an einem Wettbewerb teilzunehmen. Das Ausbleiben eines Preises kann großen Schaden anrichten, entmutigen und karriereverhindernd wirken. Oft hilft dann nur mehr die persönliche Förderung durch einen Dirigenten.
Ich selbst interessiere mich als Juror vor allem für musikalische Talente. Die erkenne ich manchmal schon an wenigen Noten, an einer wunderbar gestalteten Phrase. Einem solchen Kandidaten gebe ich sofort Punkte, selbst wenn er mal wo eine falsche Note gespielt haben sollte.

Neben Spitzenwettbewerben existieren – gewissermaßen am anderen Ende der Skala – auch Musikwettbewerbe für Kinder.

Markovic Bei Kinderwettbewerben stellt sich mir immer das Problem des richtigen Maßstabs. Man hat z. B. einerseits ein begabtes, fleißiges Kind mit einem sehr guten Lehrer vor sich, andererseits ein weniger eifriges mit einem weniger guten Lehrer, das aber hochmusikalisch ist. Wenn ich nun bei der Preisvergabe einen zu großen Unterschied zwischen den beiden mache, verliert der Schwächere die Lust am Musizieren.

Kuschnir Bei Kinderwettbewerben ist es wichtig, dass möglichst viele Preise ohne starke hierarchische Staffelung vergeben werden: viele Medaillen, Pokale etc. So kann man die Kinder zu weiterer Arbeit ermuntern. Entscheidend ist auch, dass die Lehrer genannt und gewürdigt werden und so ihre Lust am Unterrichten weiter stimuliert wird.

Musikwettbewerbe erhalten gerade in Österreich kaum mediales Echo. Wirkt sich diese Situation auf ihre Reputation aus?

Markovic In Russland wurde der Tschaikowski-Wettbewerb früher von der ersten Runde an live im Fernsehen übertragen, den Königin Elisabeth Wettbewerb kann man in Belgien ab der 2. Runde per TV mitverfolgen. In Österreich finden zwar so bedeutende internationale Wettbewerbe wie der Beethoven-, der Kreisler- oder der Mozart-Wettbewerb statt, keiner von ihnen aber kann mit Unterstützung seitens der Medien rechnen. Bestenfalls ergibt sich eine Rundfunksendung. Durch die sinkende mediale Aufmerksamkeit wird auch die Qualität der Wettbewerbe immer schlechter: Es wird schwieriger, Sponsoren zu gewinnen, der finanzielle Spielraum wird enger, Preisgelder und Möglichkeiten zu Folgeauftritten verringern sich und auch bei Agenten, Dirigenten und potentiellen Juroren schwindet das Interesse am Wettbewerb.

Sinkovicz Das ist in der Tat ein Riesenproblem und bei der momentanen ORF-Politik ist auch keine Besserung zu erwarten: Warum soll das Fernsehen etwas für die Jugendförderung tun, wenn schon außerhalb von Anna Netrebko keine Oper, geschweige denn ein Konzert übertragen wird. Die TV-Präsenz z. B. des Beethoven-Wettbewerbs sollte in der Kulturstadt Wien eigentlich selbstverständlich sein. Sie hätte Signalwirkung und würde auch die übrige Medienresonanz positiv beeinflussen.

Kann ein früher Wettbewerbserfolg für einen jungen Musikers auch eine Gefahr darstellen, etwa im Hinblick auf eine behutsame künstlerische Entwicklung oder die Erarbeitung eines Repertoires?

Kuschnir Normalerweise besteht für junge Musiker auch nach einem wichtigen ersten Preis noch die Möglichkeit, ihr Repertoire zu erweitern. Im Westen haben viele Musiker schon früh ein großes Repertoire anzubieten, ohne es aber optimal zu beherrschen. Gerade im Hinblick auf eine Wettbewerbsteilnahme wäre es sinnvoller, sich auf wenige Stücke zu konzentrieren und diese zu perfektionieren.

Markovic An sowjetischen Musikhochschulen war es gängig, das Spiel bestimmter Studenten als „wettbewerbsorientiert“ zu bezeichnen, was implizierte, dass es zwar gut war, jedoch keine besondere Persönlichkeit oder gar Extreme zeigte. Überhaupt bildete es eines der höchsten Ziele des sowjetischen Ausbildungssystems, dass ein junger Musiker bei einem Wettbewerb optimal reüssieren sollte. Wie entscheidet nun ein Lehrer, in welche Richtung hin er einen bestimmten Schüler trainiert? Ein Recital zu spielen, bei einem Wettbewerb anzutreten oder die „k.o.-Stellen“ von Orchesterstimmen zu beherrschen sind ja ganz verschiedene Dinge.

Kuschnir Ich habe als Lehrer sowohl Solisten als auch Orchestermusiker, u. a. vier Wiener Philharmoniker, aufgebaut. Allerdings habe ich an alle meine Schüler dieselben Ansprüche gestellt. So haben sie zunächst alle denselben Weg zurückgelegt und sich erst später selbständig z. B. für die Orchesterlaufbahn entschieden. Ich finde den im Westen gängigen Begriff „Orchesterunterricht“ problematisch. Es hat keinen Sinn, Musiker zu Orchestermusikern auszubilden, d. h. sie keine schwierigen solistischen Stücke, dafür aber viel Orchesterliteratur spielen zu lassen. Wenn sie keine ausgezeichneten Instrumentalisten sind, werden ihnen auch die trainierten Orchesterstellen nichts nützen.

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Univ.-Prof. Boris Kuschnir ist Lehrender für Violine an der Konservatorium Wien Privatuniversität, erfahrener Juror bei zahlreichen internationalen Wettbewerben und Lehrer von bedeutenden Wettbewerbspreisträgern.
Dr. Wilhelm Sinkovicz ist Musikkritiker der Tageszeitung Die Presse und unterrichtet an der Konservatorium Wien Privatuniversität Formanalyse.
Ranko Markovic ist künstlerisch-pädagogischer Leiter der Konservatorium Wien Privatuniversität.
Das Gespräch führte Christian Arseni.